Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Neunzehntes Kapitel
Unsere monistische Sittenlehre.
Monistische Studien über das ethische Grundgesetz. Gleichgewicht
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Gleichbereichtigung des
Egoismus und Altruismus. Fehler der christlichen Moral. Staat, Schule
und Kirche.
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Inhalt: Monistische und dualistische Ethik. Widerspruch der
reinen und praktischen Vernunft bei Kant. Sein kategorischer Imperativ.
Die Neokantianer. Herbert Spencer. Egoismus und Altruismus
(Selbstliebe und Nächstenliebe). Aequivalenz beider Naturtriebe.
Das ethische Grundgesetz; die Goldene Regel. Alter derselben. Christliche
Sittenlehre. Verachtung des Individuums, des Leibes, der Natur, der
Kultur, der Familie, der Frau. Papistische Moral. Unsittliche Folgen des
Cölibats. Nothwendigkeit der Abschaffung des Cölibat,
Ohrenbeichte und Ablaßkram. Staat und Kirche. Religion ist
Privatsache. Kirche und Schule. Staat und Schule. Nothwendigkeit der
Schulreform.
Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz
bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und
naturgemäß erfüllt werden können, wenn sie in
reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen.
Diesem Grundsatze unserer monistischen Philosophie zu Folge muß
unsere gesammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem
Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des "Kosmos" stehen,
welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntniß der Natur-Gesetze
gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Universum im
Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so
bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen
Theil dieses "Kosmos", und so kann auch unsere
naturgemäße Ordnung desselben nur eine einheitliche sein.
Es giebt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine
physische, materielle und eine moralische, immaterielle
Welt.
Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der
Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel
Kant, daß die sittliche Welt von der physischen ganz
unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also
müsse auch das sittliche Bewußtsein des Menschen,
als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der
wissenschaftlichen Welterkenntniß sein und sich vielmehr
auf den religiösen Glauben stützen. Die Erkenntniß der
sittlichen Welt soll danach durch die gläubige praktische
Vernunft geschehen, hingegen diejenige der Natur oder der
physischen Welt durch die reine theoretische Vernunft. Dieser
unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's
Philosphie war ihre größter und schwerster Fehler; er
hat unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute mächtig
fort. Zuerst hat der kritische Kant den großartigen und
bewunderungswürdigen Palast der reinen Vernunft ausgebaut
und einleuchtend gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der
Metaphysik: der persönliche Gott, der freie Wille
und die unsterbliche Seele, darin nirgends untergebracht werden
können, ja daß vernünftige Beweise für deren
Realität gar nicht zu finden sind. Später aber baute der
dogmatische Kant an diesen realen Krystall-Palast der reinen
Vernunft das schimmernde ideale Luftschloß der praktischen
Vernunft an, in welchem drei imposante Kirchenschiffe zur
Wohnstätte jener drei gewaltigen mystischen Gottheiten
hergerichtet wurden. Nachdem sie durch die Vorderthür mittelst
des vernünftigen Wissens hinausgeschafft wurden, kehrten sie
nun durch die Hinterthür mittelst des unvernünftigen
Glaubens wieder zurück.
Die Kuppel seines großen Glaubens-Domes krönte Kant mit
einem seltsamen Idol, dem brühmten kategorischen
Imperativ; danach ist die Forderung des allgemeinen Sittengesetzes
ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rücksicht und
Wirklichkeit und Möglichkeit; sie lautet; "Handle jederzeit so,
daß die Maxime (oder der subjektive Grundsatz deines Willens)
zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."
Jeder normale Mensch sollte demnach dasselbe Pflichtgefühl
haben wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat diesen
schönene Traum grausam zerstört; sie hat gezeigt, daß
unter den Natur-Völkern die Pflichten noch weit verschiedener
sind als unter den Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die
wir als verwerfliche Sünden oder abscheuliche Laster ansehen
(Diebstahl, Betrug, Mord, Ehebruch u. s. w.), gelten bei anderen
Völkern unter Umständen als Tugenden oder selbst als
Pflichtgebote.
Obgleich nun der offenkundige Gegensatz der beiden Vernünfte
von Kant, der principielle Antagonismus der reinen und
der praktischen Vernunft, schon im Anfange des 19.
Jahrhunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute in
weiten Kreisen herrschend. Die moderne Schule der Neokantianer
predigt noch heute den "Rückgang auf Kant" so eindringlich gerade
wegen dieses willkommenen Dualismus, und die streitende
Kirche unterstützt sie dabei auf's Wärmste, weil ihr eigener
mystischer Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirksame
Niederlage bereitete demselben erst die moderne Naturwissenschaft in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; die Voraussetzungen der
praktischen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig. Die
monistische Kosmologie bewies auf Grund des Substanz-Gesetzes,
daß es keinen "persönlichen Gott" giebt; die vergleichende
und genetische Psychologie zeigte, daß eine "unsterbliche Seele"
nicht existiren kann, und die monistische Physiologie wies nach,
daß die Annahme des "freien Willens" auf Täuschung beruht.
Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die "ewigen,
ehernen Naturgesetze" der anorganischen Welt auch in der
organischen und moralischen Welt Geltung haben.
Unsere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die
praktische Philosophie und Ethik nicht nur negativ, indem sie den
Kantischen Dualismus zertrümmert, sondern auch positiv,
indem sie an dessen Stelle das neue Gebäude des ethischen
Monismus setzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl
des Menschen nicht auf einem illusorischen "kategorischen
Imperativ" beruht, sondern auf dem realen Boden der socialen
Instinkte, die wir bei allen gesellig lebenden höheren Thieren
finden. Sie erkennt als höchstes Ziel der Moral die Herstellung
einer gesunden Harmonie zwischen Egoismus und
Altruismus, zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe. Vor
allen Anderen war es der große englische Philosoph Herbert
Spencer, dem wir die Begründung dieser monistischen Ethik
durch die Entwickelungslehre verdanken.
Egoismus und Altruismus. Der Mensch gehört zu den
sozialen Wirbelthieren und hat daher, wie alle sozialen Thiere,
zweierlei verschiedene Pflichten, erstens gegen sich selbst und zweitens
gegen die Gesellschaft, der er angehört. Erstere sind Gebote der
Selbstliebe (Egoismus), letztere Gebote der
Nächstenliebe (Altruismus). Beide natürliche Gebote
sind gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich.
Will der Mensch in geordneter Gesellschaft existiren und sich wohl
befinden, so muß er nicht nur sein eigenes Glück anstreben,
sondern auch dasjenige der Gemeinschaft, der er angehört, und
der "Nächsten", welche diesen socialen Verein bilden. Er muß
erkennen, daß ihr Gedeihen sein Gedeihen ist und ihr Leiden sein
Leiden. Dieses sociale Grundgesetz ist so einfach und so
naturnothwendig, daß man schwer begreift, wie demselben
theoretisch und praktisch widersprochen werden kann; und doch
geschieht das noch heute, wie es seit Jahrtausenden geschehen ist.
Aequivalenz des Egoismus und Altruismus. Die gleiche
Berechtigung dieser beiden Naturtriebe, die moralische
Gleichwerthigkeit der Selbstliebe und der Nächstenliebe ist das
wichtigste Fundamental-Princip unserer Moral. Das höchste
Ziel aller vernünftigen Sittenlehre ist demnach sehr einfach, die
Herstellung des "naturgemäßen Gleichgewichts zwischen
Egoismus und Altruismus", zwischen Eigenliebe und
Nächstenliebe". Das Goldene Sittengesetz sagt; "Was du willst,
daß dir die Leute thuen sollen, das thue du ihnen auch." Aus
diesem höchsten Gebot des Christenthums folgt von selbst,
daß wir ebenso heilige Pflichten gegen uns selbst wie gegen unsere
Mitmenschen haben. Ich habe meine Auffassung dieses Grundprincips
bereits 1892 in meinem "Monismus" auseinandergesetzt (S.
99,45) und dabei besonders drei wichtige Sätze betont: I. Beide
konkurrirende Triebe sind Naturgesetze, die zum Bestehen der
Familie und der Gesellschaft gleich wichtig und gleich nothwendig sind;
der Egoismus ermöglicht die Selbsterhaltung des
Individuums, der Altruismus diejenige der Gattung und
Species, die sich aus der Kette der vergänglichen
Individuen zusammensetzt. II. Die socialen Pflichten, welche die
Gesellschaftsbildung den associirten Menschen auferlegt, und durch
welche sich dieselbe erhält, sind nur höhere
Entwickelungsformen der socialen Instinkte, welche wir bei allen
höheren, gesellig lebenden Thieren finden (als "erblich gewordene
Gewohnheiten"). III. Beim Kulturmenschen steht alle Ethik,
sowohl die theoretische als die praktische Sittenlehre, als
"Normwissenschaft" in Zusammenhang mit der Weltanschauung
und demnach auch mit der Religion.
Das ethische Grundgesetz. (Das Goldene Sittengesetz)
Aus der Anerkennung unseres Fundamental-Princips der Moral ergiebt
sich unmittelbar das höchste Gebot derselben, jenes Pflichtgebot,
das man jetzt oft als das Goldene Sittengesetz oder kurz als die
"Goldene Regel" bezeichnet. Christus sprach dasselbe wiederholt
in dem einfachen Satze aus: "Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst" (Matth. 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. s.
w.); der Evangelist Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu;
"Es ist kein größeres Gebot als dieses"; und
Matthäus sagte; "In diesen zwei Geboten hänget das
ganze Gesetz und die Propheten." In diesem wichtigsten und
höchsten Gebote stimmt unsere monistische Ethik
vollkommen mit der christlichen überein. Nur
müssen wir gleich die historische Thatsache hinzufügen,
daß die Aufstellung dieses obersten Grundgesetzes nicht ein
Verdienst Christi ist, wie die meisten christlichen Theologen behaupten
und ihre unkritischen Gläubigen unbesehen annehmen. Vielmehr
ist diese Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre
älter als Christus und von vielen verschiedenen Weisen
Griechenlands und des Orients als wichtigstes Sittengesetz anerkannt.
Pittakos von Mytilene, einer der sieben Weisen Griechenlands,
sagte 620 vor Christus: "Thue deinem Nächsten nicht, was du ihm
verübeln würdest." - Konfutse, der große
chinesische Philosoph und Religionsstifter (der die Unsterblichkeit der
Seele und den persönlichen Gott leugnete), sagte 500 Jahre vor
Chr.: "Thue jedem anderen, was du willst, daß er dir thun soll; und
thue keinem Anderen was du willst, daß er dir nicht thun soll. Du
brauchst nur dieses Gebot allein; es ist die Grundlage aller anderen
Gebote." - Aristoteles lehrte um die Mitte des vierten
Jahrhundert vor Chr.: "Wir sollen uns gegen Andere so benehmen, als
wir wünschen, daß Andere gegen uns handeln sollen." In
gleichem Sinne und zum Theil mit denselben Worten wird auch die
Goldene Regel von Thales, Isokrates, Aristippus,
dem Pythagoräer Sextus und anderen Philosophen des
klassischen Alterthums - mehrere Jahrhunderte vor Christus! -
ausgesprochen. (Vergleiche darüber das wichtige Werk von
Saladin: "Jehovah's gesammelte Werke".) Aus dieser
Zusammestellung geht hervor, daß das Goldene Grundgesetz
polyphyletisch entstanden, d. h. zu verschiedenen Zeiten und an
verschiedenen Orten von mehreren Philosophen - unabhängig von
einander - aufgestellt worden ist. Anderenfalls müßte man
annehmen, daß Jesus dasselbe aus anderen orientalischen Quellen
(aus älteren semitischen, indischen, chinesischen Traditionen,
besonders buddhistischen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt
für die meisten anderen christlichen Glaubenslehren
nachgewiesen ist. Saladin faßt die bezüglichen
Ergebnisse der modernen kritischen Theologie in dem Satze zusammen:
"Es giebt keinen vernünftigen und praktischen, von Jesus
gelehrten Moralgrundsatz, der nicht vor ihm auch schon von
Anderen gelehrt worden wäre" (Thales, Solon, Sokrates,
Plato, Konfutse u. s. w.).
Christliche Sittenlehre. Da das ethische Grundgesetz demnach
bereits seit 2500 Jahren besteht, und da das Christenthum dasselbe
ausdrücklich als höchstes, alle anderen umfassendes Gebot
an die Spitze seiner Sittenlehre stellt, würde unsere
monistische Ethik in diesem wichtigen Punkte nicht nur mit jenen
älteren heidnischen Sittenlehren, sondern auch mit den
christlichen in vollkommenem Einklang sein. Leider wird aber diese
erfreuliche Harmonie dadurch gestört, daß die Evangelien
und die paulinischen Episteln viele andere Sittenlehren enthalten, die
jenem ersten und obersten Gebote geradezu widersprechen. Die
christlichen Theologen haben sich vergebens bemüht, diese
auffälligen und schmerzlich empfundenen Widersprüche
durch künstliche Deutungen auszugleichen. Wir brauchen daher
hier nicht darauf einzugehen, müssen aber wohl kurz auf jene
bedauerlichen Seiten der christlichen Lehre hinweisen, welche mit der
besseren Weltanschauung der Neuzeit unverträglich und
bezüglich ihrer praktischen Konsequenzen geradezu
schädlich sind. Dahin gehört die Verachtung der christlichen
Moral gegen das eigene Individuum, gegen den Leib, die Natur, die
Kultur, die Familie und die Frau.
I. Die Selbst-Verachtung des Christenthums. Als obersten und
wichtigsten Mißgriff der christlichen Ethik, welcher die Goldene
Regel geradezu aufhebt, müssen wir die Uebertreibung der
Nächstenliebe auf Kosten der Selbstliebe betrachten. Das
Christenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im
Princip, und doch ist dieser Naturtrieb zur Selbsterhaltung absolut
unentbehrlich; ja man kann sagen, daß auch der Altruismus,
sein scheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus ist.
Nichts Großes, nichts Erhabeneres ist jemals ohne Egoismus
geschehen und ohne die Leidenschaft, welche uns zu großen
Opfern befähigt. Nur die Ausschreitungen dieser Triebe
sind verwerflich. Zu denjenigen christlichen Geboten, welche uns in
frühester Jugend als wichtigste eingeprägt und welche in
Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz
(Matthäus 5, 44): "Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen,
thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen
und verfolgen." Dieses Gebot ist sehr ideal, aber praktisch von sehr
bedenklichem Werthe. Ebenso verhält es sich mit der Anweisung:
"Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den Mantel"; d. h. in
das moderne Leben übersetzt: "Wenn dich ein gewissenloser
Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens betrügt,
dann schenke ihm auch noch die anderen Hälfte" - oder in die
politische Praxis übertragen: "Wenn euch einfältigen
Deutschen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen
werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann schenkt
ihnen auch noch die übrigen Kolonien - oder am besten: gebt
ihnen Deutschland auch noch dazu!" Da wir hier gerade die
vielbewunderte Weltmachts-Politik des modernen England
berühren, in welchem schneidenden Widerspruch dieselbe
zu allen Grundlehren der christlichen Liebe steht, welche von dieser
großen Nation mehr als von jeder anderen im Munde
geführt wird. Uebrigens ist ja der offenkundige Widerspruch
zwischen der empfohlenen idealen, altruistischen Moral des
einzelnen Menschen und der realen, rein egoistischen
Moral der menschlichen Gemeinden, und besonders der
christlichen Kultur-Staaten, eine allbekannte Thatsache. Es wäre
interessant, mathematisch festzustellen, bei welcher Zahl von
vereinigten Menschen das altruistische Sitten-Ideal der einzelnen
Person sich in sein Gegentheil verwandelt, in die rein egoistische
"Real-Politik" der Staaten und Nationen.
II. Die Leibes-Verachtung des Christenthums. Da der christliche
Glaube den Organismus des Menschen ganz dualistisch beurtheilt und
der unsterblichen Seele nur einen vorübergehenden Aufenthalt im
sterblichen Leibe anweist, ist es ganz natürlich, daß der
ersteren ein viel höherer Werth beigemessen wird als dem
letzteren. Daraus folgt jene Vernachlässigung der Leibespflege, der
körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben
des christlichen Mittelalters sehr unvortheilhaft vor demjenigen des
heidnischen klassischen Alterthums auszeichnet. In der christlichen
Sittenlehre fehlen jene strengen Gebote der täglichen Waschungen
und der sorgfältigen Körperpflege, die wir in der
mohammedanischen, der indischen und anderen Religionen nicht nur
theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch ausgeführt sehen.
Das Ideal des frommen Christen ist in vielen Klöstern der Mensch,
der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet, der seine
übel riechende Kutte niemals wechselt, und der statt ordentlicher
Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Betübungen,
sinnlosem Fasten u. s. w. zubringt. Als Auswüchse dieser
Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen
Bußübungen der Geißler und anderer Asketiker
erinnert werden.
III. Die Natur-Verachtung des Christenthums. Eine Quelle von
unzähligen theoretischen Irrthümern und praktischen
Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen Entbehrungen
liegt in dem falschen Anthropismus des Christenthums, in der
exklusiven Stellung, welche dasselbe dem Menschen als "Ebenbild
Gottes" anweist, im Gegensatze zu der übrigen Natur. Dadurch hat
dasselbe nicht allein zu einer höchst schädlichen
Entfremdung von unserer herrlichen Mutter "Natur" beigetragen,
sondern auch zu einer bedauernswerten Verachtung der übrigen
Organismen. Das Christenthum kennt nicht jene rühmliche
Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid mit den
nächststehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden,
Pferden, Rindern u s. w.), welche zu den Sittengesetzen vieler anderer
älterer Religionen gehören, vor Allem der
weitestverbreiteten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im
katholischen Süd-Europa gelebt hat, ist oftmals Zeuge jener
abscheulichen Thierquälereien gewesen, die uns Thierfreunden
sowohl das tiefste Mitleid als den höchsten Zorn erregen; und
wenn er dann jenen rohen "Christen" Vorwürfe über ihre
Grausamkeit macht, erhält er zur lachenden Antwort: "Ja, die
Thiere sind doch keine Christen!" Leider wurde dieser Irrthum auch
durch Descartes befestigt, der nur dem Menschen eine
fühlende Seele zuschrieb, nicht aber den Thieren. Wie erhaben
steht in dieser Beziehung unsere monistische Ethik über der
christlichen! Der Darwinismus lehrt uns, daß wir
zunächst von Primaten und weiterhin von einer Reihe
älterer Säugethiere abstammen, und daß diese
"unsere Brüder" sind; die Physiologie beweist uns, daß
diese Thiere dieselben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir,
daß sie ebenso Lust und Schmerz empfinden wir wir. Kein
mitfühlender, monistische Naturforscher wird sich jemals jener
rohen Mißhandlung der Thiere schuldig machen, die der
gläubige Christ in seinem anthropistischen Größenwahn
- als "Kind des Gottes der Liebe!" - gedankenlos begeht. -
Außerdem aber entzieht die principielle Natur-Verachtung des
Christenthums dem Menschen eine Fülle der edelsten irdischen
Freuden, vor Allem den herrlichen, wahrhaft erhebenden
Naturgenuß.
IV. Die Kultur-Verachtung des Christenthums. Da nach Christi
Lehre unsere Erde ein Jammerthal ist, unser irdisches Leben werthlos
und nur eine Vorbereitung auf das "ewige Leben" im besseren Jenseits,
so verlangt sie folgerichtig, daß demgemäß der Mensch
auf alles Glück im Diesseits zu verzichten und alle dazu
erforderlichen irdischen Güter gering zu achten hat. Zu
diesen "irdischen Gütern" gehören aber für den
modernen Kulturmenschen die unzähligen kleinen und
großen Hilfsmittel der Technik, der Hygiene, des Verkehrs, welche
unser heutiges Kulturleben angenehm und gemüthlich gestalten; -
zu diesen "irdischen Gütern" gehören alle die höhen
Genüsse der bildenden Kunst, der Tonkunst, der Poesie, welche
schon während des christlichen Mittelalters (und trotz seiner
Principien!) sich zu hoher Blüte entwickelten, und welche wir als
"ideale Güter" hochschätzen; - zu diesen "irdischen
Gütern" gehören alle jene unschätzbaren Fortschritte
der Wissenschaft und vor Allem die Naturerkenntniß, auf deren
ungeahnte Entwickelung unser 19. Jahrhundert in der That stolz sein
kann. Alle diese "irdischen Güter" der verfeinerten Kultur, welche
nach unserer monistischen Weltanschauung den höchsten Werth
besitzen, sind nach der christlichen Lehre werthlos, ja großentheils
verwerflich, und die strenge christliche Moral muß das Streben
nach diesen Gütern ebenso mißbilligen, wie unsere
humanistische Ethik dasselbe billigt und empfiehlt. Das Christenthum
zeigt sich also auch auf diesem praktischen Gebiete kulturfeindlich; der
Kampf, welchen die moderne Bildung und Wissenschaft dagegen zu
führen gezwungen sind, ist auch in diesem sinne
"Kulturkampf".
V. Die Familien-Verachtung des Christenthums. Zu den
bedauerlichsten Seiten der christlichen Moral gehört die
Geringschätzung, welche dasselbe gegen das Familien-Leben besitzt,
d. h. gegen jenes naturgemäße
Zusammenleben mit den nächsten Blutsverwandten, welches
für den normalen Menschen ebenso unentbehrlich ist wie
für alle höheren socialen Thiere. Die "Familie" gilt uns ja mit
Recht als die "Grundlage der Gesellschaft" und das gesunde Familien-Leben als
Vorbedingung für ein blühendes Staatsleben. Ganz
anderer Ansicht war Christus, dessen nach dem "Jenseits" gerichteter
Blick die Frau und die Familie ebenso gering schätzte wie alle
anderen Güter des "Diesseits". von den seltenen
Berührungen mit seinen Eltern und Geschwistern wissen die
Evangelien nur sehr wenig zu erzählen; das Verhältniß
zu seiner Mutter Maria war danach keineswegs so zart und innig, wie es
uns Tausende von schönen Bildern in poetischer
Verklärung vorführen; er selbst war nicht verheiratet.
Die Geschlechts-Liebe, die doch die erste Grundlage der Familien-Bildung ist,
erschien Jesus eher wie ein nothwendiges Uebel. Noch weiter
ging darin sein eifrigster Apostel, Paulus, der es für besser
erklärte, nicht zu heirathen, als zu heirathen. "Es ist dem
Menschen gut, daß er kein Weib berühre" (1. Korinther 7, 1,
28-38). Wenn die Menschheit diesen guten Rath befolgte, würde
sie damit allerdings bald alles irdische Leid und Elend loswerden; sie
würde durch diese Radikal-Kur innerhalb eines Jahrhunderts
aussterben.
VI. Die Frauen-Verachtung des Christenthums. Da Christus selbst
die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm persönlich jene feine
Veredelung des wahren Menschenwesens fremd, welche erst aus dem
innigen Zusammenleben des Mannes mit dem Weibe entsprint. Der
intime sexuelle Verkehr, auf welchem allein die Erhaltung des
Menschengeschlechts beruht, ist dafür ebenso wichtig wie die
geistige gegenseitige Ergänzung, die sich Beide in gleicher Weise in
den praktischen Bedürfnissen des täglichen Lebens wie in
den höchsten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit
gewähren. Denn Mann und Weib sind zwei verschiedene, aber
gleichwertige Organismen, jeder mit seinen eigenthümlichen
Vorzügen und Mängeln. Je höher sich die Kultur
entwickelte, desto mehr wurde dieser ideale Werth der sexuellen Liebe
erkannt, und desto höher stieg die Achtung der Frau, besonders in
der germanischen Rasse; ist sie doch die Quelle, aus welcher die
herrlichsten Blüthen der Poesie und der Kunst entsprossen sind.
Christus dagegen lag diese Anschauung ebenso fern wie fast dem ganzen
Altherthum; er theilte die allgemein herrschende Anschauung des
Orients, daß das Weib dem Manne untergeordnet und der
Verkehr mit ihm "unrein" sei. Die beleidigte Natur hat sich für
diese Mißachtung furchtbar gerächt, und die traurigsten
Folgen derselben sind namentlich in der Kulturgeschichte des
papistischen Mittelalters mit blutiger Schrift verzeichnet. (Vergl.
Albrecht Rau, Die Ethik Jesu. Gießen 1900.)
Papistische Moral. Die bewunderungswürdige Hierarchie
des römischen Papismus, die kein Mittel zur absoluten
Beherrschung der Geister verschmähte, fand ein ausgezeichnetes
Instrument in der Fortbildung jener "unreinen" Anschauung und in der
Pflege der asketischen Vorstellung, daß die Enthaltung vom
Frauenverkehr an sich eine Tugend sei. Schon in den ersten
Jahrhunderten nach Christus enthielten sich viele Priester freiwillig der
Ehe, und bald stieg der vermeintliche Werth dieses Cölibats
so hoch, daß dasselbe für obligatorisch erklärt wurde.
Die Sittenlosigkeit, die in Folge dessen einriß, ist durch die
Forschungen der neueren Kulturgeschichte allbekannt geworden. Schon
im Mittelalter wurde die Verführung ehrbarer Frauen und
Töchter durch katholische Geistliche (wobei der Beichtstuhl eine
wichtige Rolle spielte) ein öffentliches Aergerniß; viele
Gemeinden drangen darauf, daß zur Verhütung derselben
den "keuschen" Priestern das Konkubinat gestattet werde! Das
geschah denn auch in verschiedenen, oft recht romantischen Formen. So
wurde z. B. das kanonische Gesetz, daß die Pfarrersköchin
nicht jünger als vierzig Jahre sein dürfe, sehr sinnreich
dadurch "ausgelegt", daß sich der Herr Kaplan zwei
"Köchinnen" hielt, eine im Pfarrhause, die andere draußen;
wenn jene 24 und diese 18 Jahre alt war, machte das zusammen 42 -
also 2 Jahre mehr, als nöthig war. Auf den christlichen Koncilien,
auf welchen ungläubige Ketzer lebendig verbrannt wurden,
tafelten die versammelten Kardinäle und Bischöfe mit
ganzen Schaaren von Freudenmädchen. Die geheimen und
öffentlichen Ausschweifungen des katholischen Klerus wurden so
schamlos und gemeingefährlich, daß schon vor Luther
die Empörung daüber allgemein und der Ruf nach einer
"Reformation der Kirche an Haupt und Gliedern" überall laut
wurde. Daß trotzdem diese unsittlichen Verhältnisse in
katholischen Ländern noch heute fortbestehen (wenn auch mehr
im Geheimen), ist bekannt. Früher wiederholten sich noch immer
von Zeit zu Zeit die Anträge auf definitive Aufhebung des
Cölibats, so in den Kammern von Baden, Bayern, Hessen, Sachsen
und anderen Ländern. Leider bisher vergebens! Im Deutschen
Reichstage, in welchem das ultramontane Centrum gegenwärtig
die lächerlichsten Mittel zur Vermeidung der sexuellen
Unsittlichkeit vorschlägt, denkt noch heute keine Partei daran, die
Abschaffung des Cölibats im Interessse der öffentlichen
Moral zu beantragen. (Vergl. Hoensbroech, Das Papstum, Leipzig
1901).
Der moderne Kulturstaat, der nicht bloß das praktische, sondern
auch das moralische Volksleben auf eine höhere Stufe heben soll,
hat das Recht und die Pflicht, solche unwürdige und
gemeinschädliche Zustände aufzuheben. Das
"obligatorische Cölibat" der katholischen Geistlichen ist
ebenso verderblich und unsittlich wie die Ohrenbeichte und der
Ablaßkram; alle drei Einrichtungen haben mit dem
ursprünglichen Christenthum Nichts zu thun; alle drei
schlagen der reinen Christen-Moral in's Gesicht; alle drei sind
nichtswürdige Erfindungen des Papismus, darauf
berechnet, die absolute Herrschaft aufrecht zu erhalten und sie nach
Kräften materiell auszubeuten.
Die Nemesis der Geschichte wird früher oder später
über den römischen Papismus ein furchtbares Strafgericht
halten, und die Millionen Menschen, die durch diese entartete Religion
um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen ihr im
zwanzigsten Jahrhundert den Todesstoß zu versetzen - wenigstens
in den wahren "Kulturstaaten". Man hat neuerdings berechnet, daß
die Zahl der Menschen, welche durch die papistischen Ketzer-Verfolgungen, die
Inquisition, die christlichen Glaubenskriege u. s. w.
um's Leben kamen über zehn Millionen beträgt. Aber was
bedeutet diese Zahl gegen die zehnfach größere Zahl der
Unglücklichen, welche den Satzungen und der Priesterherrschaft
der entarteten christlichen Kirche moralisch zum Opfer fielen? -
gegen die Unzahl derjenigen, deren höheres Geistesleben durch sie
getödtet, deren naives Gewissen gequält, deren
Familienleben vernichtet wurde? Hier gilt das wahre Wort aus
Goethe's herrlichem Gedichte "Die Braut von Korinth":
"Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier,
Aber Menschenopfer unerhört!"
Staat und Kirche. In dem großen "Kulturkampfe",
der in Folge dieser traurigen Verhältnisse noch immer
geführt werden muß, sollte das erste Ziel die
vollständige Trennung von Staat und Kirche sein. Die "freie
Kirche soll im freien Staate" bestehen, d. h. jede Kirche soll frei sein in
voller Ausübung ihres Kultus und ihrer Ceremonien, auch im
Ausbau ihrer phanstastischen Dichtungen und abergläubischen
Dogmen - jedoch unter der Voraussetzung, daß sie dadurch
nicht die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit gefährdet. Und
dann soll gleiches Recht für alle gelten! Die freien Gemeinden und
die monistischen Religions-Gesellschaften sollen ebenso geduldet und
ebenso frei in ihren Bewegungen sein wie die liberalen Protestanten-Vereine und
die orthodoxen ultramontanen Gemeinden. Aber für
alle diese "Gläubigen" der verschiedensten Konfessionen soll die
Religion Privatsache bleiben; der Staat soll sie nur beaufsichtigen
und ihre Ausschreitungen verhüten, sie aber weder
unterdrücken noch unterstützen. Vor Allem sollen jedoch
die Steuerzahler nicht mehr gehalten werden, ihr Geld für die
Aufrechterhaltung und Förderung eines fremden
"Glaubens" herzugeben, der nach iherer ehrlichen Ueberzeugung
ein schädlicher Aberglaube ist. In den Vereinigten Staaten
von Nord-Amerika, in Holland und einigen kleineren Ländern ist
in diesem Sinne die vollständige Trennung von Staat und Kirche
längst durchgeführt, und zwar zur Zufriedenheit aller
Betheiligten. Damit ist dort zugleich die ebenso wichtige Trennung der
Kirche von der Schule bestimmt, unzweifelhaft ein wichtiger Grund
für den gewaltigen Aufschwung, welchen die Wissenschaft und
das höhere Geistesleben überhaupt neuerdings in Nord-Amerika genommen
hat.
Kirche und Schule. Es ist selbstverständlich, daß die
Entfernung der Kirche aus der Schule sich bloß auf die
Konfession bezieht, auf die besondere Glaubensform, welche der
Sagenkreis jeder einzelnen Kirche im Laufe der Zeit entwickelt hat.
Dieser "konfessionelle Unterricht" ist reine Privatsache und Aufgabe der
Eltern und Vormünder, oder derjenigen Priester oder Lehrer,
denen diese ihr persönliches Vertrauen schenken. Dagegen treten
an Stelle der eliminirten "Konfession" in der Schule zwei verschiedene
wichtige Unterrichts-Gegenstände; erstens die monistische
Sittenlehre und zweitens die vergleichende Religions-Geschichte. Ueber
die neue monistische Ethik, welche sich auf der festen Basis der
modernen Naturerkenntniß - vor Allem der
Entwickelungslehre - erhebt, ist im Laufe der letzten dreißig
Jahre eine umfangreiche Literatur erschienen. Unsere neue
vergleichende Religionsgeschichte knüpft
naturgemäß an den bestehenden Elementar-Unterricht in
"biblischer Geschichte" und in der Sagenwelt des griechischen und
römischen Alterthums an. Beide bleiben wie bisher wesentliche
Bildungs-Elemente. Das ist schon deshalb selbstverständlich, weil
unsere ganze bildende Kunst, das Hauptgebiet unserer
monistischen Aesthetik, auf das Innigste mit der jüdischen
und christlichen, der hellenischen und römischen Mythologie
verwachsen ist. Ein wesentlicher Unterschied im Unterricht wird nur
darin eintreten, daß die israelitischen und christlichen Sagen und
Legenden nicht als "Wahrheiten" gelehrt werden, sondern gleich
den griechischen und römischen als Dichtungen; der hohe
Werth des ethischen und ästhetischen Stoffes, den sie enthalten,
wird dadurch nicht vermindert, sondern erhöht. - Was die
Bibel betrifft, so sollte dieses "Buch der Bücher" den
Kindern nur in sorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand
gegeben werden (als "Schulbibel"); dadurch würde die Befleckung
der kindlichen Phantasie mit den zahlreichen unsauberen Geschichten
und unmoralischen Erzählungen verhütet werden, an denen
namentlich das Alte Testament so reich ist.
Staat und Schule. Nachdem unser moderner Kulturstaat sich
und die Schule von den Sklaven-Fesseln der Kirche befreit hat, wird er
um so mehr seine Kraft und Fürsorge der Pflege der Schule
widmen können. Der unschätzbare Wert eines guten Schul-Unterrichts ist
uns um so mehr zum Bewußtsein gekommen, je
reicher und großartiger sich im Laufe des 19. Jahrhunderts alle
Zweige des modernen Kultur-Lebens entfaltet haben. Aber die
Entwickelung der Unterrichts-Methoden hat damit keineswegs gleichen
Schritt gehalten. Die Nothwendigkeit einer umfassenden Schul-Reform
drängt sich uns immer entschiedener auf. Auch
über diese große Frage sind im Laufe der letzten vierzig
Jahre sehr zahlreiche und werthvolle Schriften erschienen. Wir
beschränken uns daher auf Hervorhebung einiger allgemeiner
Gesichtspunkte, die uns besonders wichig erscheinen: 1. Im bisherigen
Unterricht spielte allgemein der Mensch die Hauptrolle und
besonders das grammatische Studium seiner Sprache; die
Naturkunde wurde darüber ganz vernachlässigt. 2. In der
neuen Schule muß die Natur das Hauptobjekt werden; der
Mensch soll eine richtige Vorstellung von der Welt gewinnen, in der er
lebt; er soll nicht außerhalb der Natur stehen oder gar im
Gegensatz zu ihr, sondern soll als ihr höchstes und edelstes
Erzeugniß erscheinen. 3. Das Studium der klassischen
Sprachen (Lateinisch und Griechisch), das bisher den
größten Theil der Zeit und Arbeit in Anspruch nahm, bleibt
zwar sehr werthvoll, muß aber stark beschränkt und auf die
Elemente reducirt werden (das Griechische nur fakultativ, das
Lateinische obligatorisch). 4. Dafür müssen die modernen
Kultur-Sprachen auf allen höheren Schulen um so mehr
gepflegt werden (Englisch, Französisch, Italienisch). 5. Der
Unterricht in der Geschichte muß mehr das innere Geistesleben, die
Kultur-Geschichte berücksichtigen, weniger die
äußerliche Völkergeschichte (die Schicksale der
Dynastien, Kriege u. s. w.). 6. Die Grundzüge der
Entwickelungslehre sind im Zusammenhange mit denjenigen der
Kosmologie zu lehren, Geologie im Anschluß an die
Geographie, Anthropologie im Anschluß an die Biologie. 7. Die
Grundzüge der Biologie müssen Gemeingut jedes
gebildeten Menschen werden; der moderne "Anschauungs-Unterricht"
fördert die anziehende Einführung in die biologischen
Wissenschaften (Anthropologie, Zoologie, Botanik). Im Beginne ist von
der beschreibenden Systematik auszugehen (im Zusammenhang mit
Oekologie oder Bionomie); später sind die Elemente der Anatomie
und Physiologie anzuschließen. 8. Ebenso muß von
Physik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge
kennen lernen, sowie deren exakte Begründung durch die
Mathematik. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen
lernen, und zwar nach der Natur; womöglich auch aquarellieren.
Das Entwerfen von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur
(von Blumen, Thieren, Landschaften, Wolken u. s. w.) weckt nicht nur
das Interesse an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren
Genuß, sondern die Schüler lernen dadurch überhaupt
erst richtig sehen und das Gesehene verstehen. 10. Viel
mehr Sorgfalt und Zeit als bisher ist auf die körperliche
Ausbildung zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen;
vorzüglich aber sind wöchentlich gemeinsame
Spaziergänge und jährlich in den Ferien mehrere
Fußreisen zu unternehmen; der hier gebotene Anschauungs-Unterricht
ist von höchstem Werth.
Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in den
meisten Kulturstaaten die Vorbildung für den späteren
Beruf, Erwerbung eines gewissen Maßes von Kenntnissen und
Abrichtung für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule
des zwanzigsten Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die
Ausbildung des selbstständigen Denkens verfolgen, das
klare Verständniß der erworbenen Kenntnisse und die
Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Erscheinungen.
Wenn der moderne Kulturstaat jedem Bürger das allgemeine
gleiche Wahlrecht zugesteht, muß er ihm auch die
Mittelgewähren, durch gute Schulbildung seinen Verstand zu
entwickeln, um davon zum allgemeinen Besten eine vernünftige
Anwendung zu machen.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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