Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Dreizehntes Kapitel
Entwickelungsgeschichte der Welt.
Monistische Studien über die ewige Entwickelung des Universums.
Schöpfung, Anfang und Ende der Welt. Kreatistische und
genetische Kosmogenie.
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Inhalt: Begriff der Schöpfung (Kreation). Wunder.
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge. Schöpfung der
Substanz (kosmologischer Kreatismus). Diesmus: Ein
Schöpfungstag. Schöpfung der Einzeldnge. Fünf Formen
des ontologischen Kreatismus. Begriff der Entwickelung (Genesis,
Evolutio). I. Monistische Kosmogenie. Anfang und Ende der Welt.
Unendlichkeit und Ewigkeit des Universums. Raum und Zeit.
Universum perpetuum mobile. Entropie des Weltalls. II.
Monistische Geogenie. Anorganische und organische Erdgeschichte. III.
Monistische Biogenie. Transformismus und Descendenz-Theorie.
Lamarck und Darwin. IV. Monistische Anthropogenie. Abstammung des
Menschen.
Unter allen Welträthseln das größte, umfassendste und
schwerste ist dasjenige von der Entstehung und Entwickelung der Welt,
kurz gewöhnlich die "Schöpfungsfrage" genannt. Auch
zur Lösung dieses schwierigsten Welträthsels hat unser
neunzehntes Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren, ja
sie ist ihm sogar bis zu einem gewissen Grade gelungen. Wenigstens sind
wir zu der klaren Einsicht gelangt, daß alle verschiedenen
einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft sind,
daß sie alle nur ein einziges, allumfassendes "kosmisches
Universal-Problem" bilden, und den Schlüssel zur
Lösung dieser "Weltfrage" giebt uns das eine Zauberwort:
"Entwickelung!" Die großen Fragen von der Schöpfung
des Menschen, von der Schöpfung der Thiere und Pflanzen, von
der Schöpfung der Erde und der Sonne u. s. w., sie alle sind nur
Theile jener Universal-Frage: Wie ist die ganze Welt entstanden? Ist sie
auf übernatürlichem Wege "erschaffen", oder hat sie
sich auf natürlichem Wege "entwickelt"? Welcher Art sind
die Ursachen und die Wege dieser Entwickelung? Gelingt es uns, eine
sichere Antwort auf diese Fragen für eines jener Theil-Probleme zu
finden, so haben wir nach unserer einheitlichen
Naturauffassung damit zugleich ein erhellendes Licht auf deren
Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.
Schöpfung (Creatio). Die herrschende Ansicht
über die Entstehung der Welt war in früheren
Jahrhunderten fast überall, wo denkende Menschen wohnten, der
Glaube an die Schöpfung derselben. In Tausenden von
interessanten, mehr oder weniger fabelhaften Sagen und Dichtungen,
Kosmogonien und Kreations-Mythen hat dieser
Schöpfungs-Glaube seinen mannigfaltigen Ausdruck gefunden.
Frei davon blieben nur wenige große Philosophen und besonders
jene bewunderungswürdigen freien Denker des klassischen
Alterthums, die zuerst den Gedanken der natürlichen
Entwickelung erfaßten. Im Gegensatz zu diesem letzteren
trugen trugen alle jene Schöpfungs-Mythen den Charakter des
Uebernatürlichen, Wunderbaren oder Transcendenten.
Unfähig, das Wesen der Welt selbst zu erkennen und ihre
Entstehung durch natürliche Ursachen zu erklären,
mußte die unentwickelte Vernunft selbstverständlich zum
Wunder greifen. In den meisten Schöpfungs-Mythen
verknüpfte sich mit dem Wunder der Anthropismus. Wie
der Mensch mit Absicht und durch Kunst seine Werke schaffte, so sollte
der bildende "Gott" planmäßig die Welt erschaffen haben; die
Vorstellung dieses Schöpfers war meistens ganz anthropomorph,
ein offenkundiger "anthropistischer Kreatismus". Der
"allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden", wie er im
ersten Buch Moses' und in unserem heute noch gültigen
Katechismus schafft, ist ebenso ganz menschlich gedacht wie der
moderne Schöpfer von Agassiz und Reinke oder der
intelligente "Maschinen-Ingenieur" von anderen Biologen der
Gegenwart.
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation
der Substanz und der Accidenzen). Bei tieferem Eingehen in den
Wunderbegriff der Kreation können wir als zwei wesentlich
verschiedene Akte die totale Schöpfung des Weltalls und die
partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterscheiden,
entsprechend dem Begriffe Spinoza's von der Substanz
(dem Universum) und den Accidenzen (oder Modi,
den einzelnen "Erscheinungsformen der Substanz"). Diese
Unterscheidung ist principiell wichtig; denn es hat viele angesehene
Philosophen gegeben (und es giebt noch heute solche), welche die
erstere annehmen, die letztere dagegen verwerfen.
Schöpfung der Substanz (kosmologischer
Kreatismus). Nach dieser Schöpfungslehre hat "Gott die Welt
aus dem Nichts geschaffen". Man stellt sich vor, daß der "ewige
Gott" (als vernünftiges, aber immaterielles Wesen!) für sich
allein von Ewigkeit her (im Raum) ohne Welt existirte, bis dann einmal
auf den Gedanken kam, "die Welt zu schaffen". Die einen Anhänger
dieses Glaubens beschränken die Schöpfungsthätigkeit
Gottes auf's Aeußerste, auf einen einzigen Akt; sie nehmen an,
daß der extramundane Gott (dessen übrige Thätigkeit
räthselhaft bleibt!) in einem Augenblick die Substanz erschaffen,
ihr die Fähigkeit zur weitestgehenden Entwickelung beigelegt und
sich dann nie weiter um sie bekümmert habe. Diese weit
verbreitete Ansicht ist namentlich im englischen Deismus
vielfach ausgebildet worden; sie nähert sich unserer monistischen
Entwickelungslehre bis zur Berührung und giebt sie nur in dem
einen Momente (der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den
Schöpfungsgedanken kam. Andere Anhänger des
kosmologischen Kreatismus nehmen dagegen an, daß "Gott der
Herr" die Substanz nicht bloß einmal erschaffen habe, sondern als
bewußter "Erhalter und Regierer der Welt" in deren Geschichte
fortwirke. Viele Variationen dieses Glaubens nähern sich bald dem
Pantheismus, bald dem konsequenten Theismus. Alle diese
und ähnliche Formen des Schöpfungsglaubens sind
unvereinbar mit dem Gesetz der Erhaltung der Kraft und des Stoffs;
dieses kennt keinen "Anfang der Welt".
Besonders interessant ist, daß E. Du Bois-Reymond in seiner
letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) sich zu diesem
kosmologischen Kreatismus (als Lösung des größten
Welträthsels!) bekannt hat; er sagt; "Der göttlichen
Allmacht würdig allein ist, sich zu denken, daß sie vor
undenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze
Materie so geschaffen habe, daß nach der Materie mitgegebenen
unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für
Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren,
beispielweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus
denen ohne weitere Nachhülfe die heutige Natur von einer
Urbacille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkus bis zu
Suleima's holden Gebärden, bis zu Newton's Gehirn ward. So
kämen wir mit einem Schöpfungstage (!) aus und
ließen ohne alten und neuen Vitalismus die organische Natur rein
mechanisch entstehen." Hier wie bei der Bewußtseins-Frage in der
Ignorabimus-Rede (S. 73) offenbart Du Bois-reymond in
auffallender Weise die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit seines
monistischen Denkens.
Schöpfung der Einzeldinge (ontologischer
Kreatismus). Nach dieser individuellen, noch jetzt herrschenden
Schöpfungslehre hat Gott der herr nicht nur die Welt im Ganzen
("aus Nichts!") geschaffen, sondern auch alle einzelnen Dinge in
derselben. In der christlichen Kulturwelt besitzt noch heute die uralte
semitische, aus dem ersten Buch Moses herübergekommene
Schöpfungssage die weiteste Geltung; selbst unter den modernen
Naturforschern findet sie noch hie und da gläubige
Anhänger. Ich habe meine kritische Auffassung derselben im
ersten Kapitel meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte"
eingehend dargelegt. Als interessante Modifikationen dieses
ontologischen Kreatismus dürften folgende Theorien zu
unterscheiden sein: I. Dualistische Kreation: Gott hat sich auf
zwei Schöpfungsakte beschränkt; zuerst schuf er die
anorganische Welt, die todte Substanz, für die allein das Gesetz der
Energie gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der
Weltkörper und der Gebirgsbildung; später erwarb Gott
Intelligenz und theilte diese den Dominanten mit, den zielstrebigen,
intelligenten Kräften, welche die Entwickelung der Organismen
bewirken und leiten (Reinke). II. Trialistische Kreation:
Gott die Welt in drei Hauptakten geschaffen: A. Schöpfung
des Himmels (d. h. der außerirdischen Welt); B. Schöpfung
der Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen; C.
Schöpfung des Menschen (als Ebenbild Gottes): dieses Dogma ist
noch heute weit verbreitet unter christlichen Theologen und anderen
"Gebildeten"; es wird in vielen Schulen als Wahrheit gelehrt. III.
Heptamerale Kreation: die Schöpfung in sieben Tagen (nach
Moses). Obgleich nur wenige Gebildete heute noch wirklich an
diesen mosaischen Mythus glauben, wird er dennoch unseren Kindern
schon in der frühesten Jugend mit dem Bibel-Unterricht fest
eingeprägt. Die vielfachen, namentlich in England gemachten
Versuche, denselben mit der modernen Entwickelungslehre in Einklang
zu bringen, sind völlig fehlgeschlagen. Für die
Naturwissenschaft gewann derselbe dadurch große Bedeutung,
daß Linné bei Begründung seines Natur-Systems
(1735) ihn annahm und zur Begriffs-Bestimmung der organischen (von
ihm für beständig gehaltenen Species benutzte: "Es
giebt so viele verschiedene Arten von Thieren und Pflanzen, als im
Anfang von dem unendlichen Wesen reschaffen worden sind." Dieses
Dogma wurde ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859)
festgehalten, obgleich Lamarck schon 1809 seine Unhaltbarkeit
dargelegt hatte. IV. Periodische Kreation: im Anfang jeder
Periode der Erdgeschichte wurde die ganze Thier- und Pflanzen-Bevölkerung
neu geschaffen und am Ende derselben durch eine
allgemeine Katastrophe vernichtet; es giebt so viele
General-Schöpfungs-Akte, als getrennte geologische Perioden auf einander
folgten (die Katastrophen-Theorie von Cuvier, 1818, und von
Louis Agassiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren
unvollkommenen Anfängen (in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts) diese Lehre von den wiederholten Neuschöpfungen
der organischen Welt zu stützen schien, hat dieselbe später
vollständig widerlegt. V. Individuelle Kreation: jeder
einzelne Mensch - ebenso wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum
- ist nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entstanden, sondern
durch die Gnade Gottes geschaffen ("der alle
Dinge kennt und die Haare auf unserem Haupte gezählt hat"). man
liest diese christliche Schöpfungs-Ansicht noch heute oft in den
Zeitungen, besonders bei Geburts-Anzeigen ("Gestern schenkte uns der
gnädige Gott einen gesunden Knaben" u. s. w.). Auch die
individuellen Talente und Vorzüge unserer Kinder werden oft als
"besondere Gaben Gottes" dankbar anerkannt (die erblichen Fehler
gewöhnlich nicht!).
Entwickelung (Genesis, Evolutio). Die
Unhaltbarkeit der Schöpfungs-Sagen und des damit
verknüpften Wunderglaubens mußte sich schon
frühzeitig denkenden Menschen aufdrängen; wir finden
daher schon vor mehr als zweitausend Jahren zahlreiche Versuche,
dieselben durch eine vernünftige Theorie zu ersetzen und die
Entstehung der Welt mittelst natürlicher Ursachen zu
erklären. Allen voran stehen hierin wieder die großen
Denker der ionischen Naturphilosophie, ferner Demokritos, Heraklitos,
Empedokles, Aristoteles, Lukretius und andere Philosophen des
Alterthums. Die ersten unvollkommenen Versuche, welche sie
unternahmen, überraschen uns zum Theil durch strahlende
Lichtblicke des Geistes, die als Vorläufer moderner Ideen
erscheinen. Indessen fehlte dem klassischen Alterthum jener sichere
Boden der naturphilosophischen Spekulation, der erst durch
unzählige Beobachtungen und Versuche der Neuzeit gewonnen
wurde. Während des Mittelalters - und besonders während
der Gewaltherrschaft des Papismus - ruhte die wissenschaftliche
Forschung auf diesem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen
der Inquisition sorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an
die hebräische Mythologie des Moses als definitive Antwort auf
alle Schöpfungsfragen galt. Selbst diejenigen Erscheinungen, die
unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatsachen
aufforderten, die Keimesgeschichte der Thiere und Pflanze, die
Embryologie des Menschen, blieben unbeachtet oder erregten nur hier
und da das Interesse einzelner wißbegieriger Beobachter; aber ihre
Entdeckungen wurden ignorirt und vergessen. Außerdem wurde
der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr
Weg von vornherein durch die herrschende Präformations-Lehre
versperrt, durch das Dogma, daß die charakterische
Form und Struktur jeder Thier- und Pflanzen-Art schon im Keime
vorgebildet sei (vergl. S. 26).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus,
Evolutionismus). Die Wissenschaft, die wir heute
Entwickelungslehre (im weitesten Sinne) nennen, ist sowohl im Ganzen
als in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; sie
gehört zu dessen wichtigsten und glänzendsten
Erzeugnissen. Thatsächlich ist dieser Begriff, der noch im 18.
Jahrhundert fast unbekannt war, heute bereits ein fester Grundstein
unserer ganzen Weltanschauung geworden. Ich habe die
Grundzüge derselben in früheren Schriften ausführlich
behandelt, am eingehendsten in der "Generellen Morphologie" (1866),
sodann mehr popular in der "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" (1868), zehnte Auflage 1902) und mit
besonderer Beziehung auf den Menschen in der "Anthropogenie" (1874,
fünfte Auflage 1903). Ich beschränke mich daher hier auf
eine kurze Uebersicht der wichtigsten Fortschritte, welche die
Entwickelungslehre im Laufe des 19. Jahrhunderts gemacht hat; sie
betrifft die natürliche Entstehung 1. des Kosmos, 2. der Erde, 3.
der irdisichen Organismen und 4. des Menschen.
I. Monistische Kosmogenie. Den ersten "Versuch", die
Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen
Weltgebäudes nach "Newton'schen Grundsätzen" - d.
h. durch mathematische und physikalische Gesetze - in einfachster
Weise zu erklären, unternahm Immanuel Kant in seinem
berühmten Jugendwerke, der "Allgemeinen Naturgeschichte und
Theorie des Himmels" (1755). Leider blieb dieses großartige und
kühne Werk 90 Jahre hindurch fast unbekannt; es wurde erst
1845 durch Alexander Humboldt wieder ausgegraben, im ersten
Bande seines "Kosmos". Inzwischen war aber der große
französische Mathematiker Pierre Laplace
selbstständig auf ähnliche Theorien wie Kant
gekommen und führte dieselben mit mathematischer
Begründung weiter aus in seiner "Exposition du systme du
monde" (1796). Sein Hauptwerk "Mécanique céleste"
erschien
im Jahre 1799. Die übereinstimmenden Grundzüge der
Kosmogenie von Kant und Laplace beruhen bekanntlich
auf einer mechanischen Erklärung der Planeten-Bewegungen und
der daraus abgeleiteten Annahme, daß alle Weltkörper
ursprünglich aus rotirenden Nebenbällen durch Verdichtung
entstanden sind. Diese "Nebular-Hypothese" oder
"kosmologische Gas-Theorie" ist zwar später vielfach
verbessert und ergänzt worden, sie besteht aber noch heute
unerschüttert als der beste von allen Versuchen, die Entstehung
des Weltgebäudes einheitlich und mechanisch zu erklären
(vergl. Wilhelm Bölsche, Entwickelungsgeschichte der
Natur. I. Bd. 1894). In neuester Zeit hat dieselbe eine bedeutungsvolle
Ergänzung und zugleich Verstärkung durch die Annahme
gewonnen, daß dieser kosmologische Proceß nicht nur
einmal stattgefunden, sondern sich periodisch wiederholt hat.
Während in gewissen Theilen des unendlichen Weltraums aus
rotirenden Nebenbällen neue Weltkörper entstehen und sich
entwickeln, werden in anderen Theilen desselben umgekehrt alte,
erkaltete und abgestorbene Weltkörper durch Zusammenstoß
wieder zerstäubt und in diffuse Nebenmassen aufgelöst.
(Vergl. Zehnder, Die Mechanik des Weltalls. 1897.)
Anfang und Ende der Welt. Fast alle älteren und neueren
Kosmogonien und so auch die meisten, die sich an Kant und
Laplace anschlossen, gingen von der herrschenden Ansicht aus,
daß die Welt einen Anfang gehabt habe. So hätte sich
"im Anfang" nach einer vielverbreiteten Form der "Nebular-Hypothese"
ursprünglich ein ungeheurer Nebelball aus äußerst
dünner und leichter Materie gebildet, und in einem bestimmten
Zeitpunkte ("vor undenklich langer Zeit") habe in diesem eine Rotations-Bewegung
angefangen. Ist der "erste Anfang" dieser kosmogenen
Bewegung erst einmal gegeben, so lassen sich dann nach jenen
mechanischen Principien die weiteren Vorgänge in der Bildung
der Weltkörper, der Sonderung der Planeten-Systeme u. s. w.
sicher ableiten und mathematisch begründen. Dieser erste
"Ursprung der Bewegung" ist das zweite
"Welträthsel" von Du Bois-Reymond; er erklärt
dasselbe für transcendent. Auch viele andere Naturforscher
und Philosophen kommen um diese Schwierigkeit nicht herum und
resigniren mit dem Geständniß, daß man hier einen
ersten "übernatürlichen Anstoß", also ein "Wunder",
annehmen müsse.
Nach unserer Ansicht wird dieses "zweite Welträthsel" durch die
Annahme gelöst, daß die Bewegung ebenso eine
immanente und ursprüngliche Eigenschaft der Substanz ist
wie die Empfindung (S. 91). Die Berechtigung zu dieser
monistischen Annahme finden wir erstens im Substanz-Gesetz und
zweitens in den großen Fortschritten, welche die Astronomie und
Physik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben.
Durch die Spektral-Analyse von Bunsen und
Kirchhoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die
Millionen Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum
erfüllen, aus denselben Materien bestehen wie unsere Sonne und
Erde, sondern auch, daß sie sich in verschiedenen Zuständen
der Entwickelung befinden; wir haben sogar mit ihrer Hülfe
Kenntnisse über die Bewegungen und Entfernungen der Fixsterne
gewonnen, welche durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden
konnten. Ferner ist das Teleskop selbst sehr bedeutend
verbessert worden und hat uns mit Hülfe der Photographie
eine Fülle von astronomischen Entdeckungen geschenkt, welche im
Beginne des 19. Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten.
Insbesondere hat die bessere Kenntniß der Kometen und
Sternschnuppen, der Sternhaufen und Nebenflecke, uns die große
Bedeutung der kleinen Weltkörper kennen gelehrt, welche zu
Milliarden zwischen den größeren Sternen im Weltraum
vertheilt sind.
Wir wissen jetzt auch, das die Bahnen der Millionen von
Weltkörpern veränderlich und zum Theil
unregelmäßig sind, während man früher die
Planeten-Systeme als beständig betrachtete und die rotirenden
Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre Kreise beschreiben
ließ. Wichtige Aufschlüsse verdankt die Astrophysik aber
auch den gewaltigen Fortschritten in anderen Gebieten der Physik, vor
Allem in der Optik und Elektrik, sowie in der dadurch geförderten
Aether-Theorie. Endlich und vor Allem erweist sich auch hier wieder als
größter Fortschritt unserer Natur-Erkenntniß das
universale Substanz-Gesetz. Wir wissen jetzt, daß dasselbe
ebenso überall in den fernsten Welträumen unbedingte
Geltung hat wie in unserem Planeten System, ebenso in dem kleinsten
Theilchen unserer Erde wie in der kleinsten Zelle unseres Körpers.
Wir sind aber auch zu der wichtigen Annahme berechtigt und logisch
gezwungen, daß die Erhaltung der Materie und der Energie zu allen
Zeilen ebenso allgemein bestanden hat, wie sie heute ohne Ausnhame
besteht. In alle Ewigkeit war, ist und bleibt das unendliche
Universum dem Substanz-Gesetz unterworfen.
Aus allen diesen gewaltigen Fortschritten der Astronomie und Physik,
die sich gegenseitig erläutern und ergänzen, ergiebt sich
eine Reihe von überaus wichtigen Schlüssen über die
Zusammensetzung und Entwickelung des Kosmos, über die
Beharrung und Umbildung der Substanz. Wir fassen dieselben kurz in
folgenden Thesen zusammen: I. Der Weltraum ist unendlich
groß und unbegrenzt; er ist nirgends leer, sondern allenthalben mit
Substanz erfüllt. II. Die Weltzeit ist ebenfalls unendlich und
unbegrenzt; sie hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist Ewigkeit. III.
Die Substanz befindet sich überall und jeder Zeit in
ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends herrscht
vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die unendliche
Quantität der Materie ebenso unverändert wie diejenige der
ewig wechselnden Energie. IV. Die Universal-Bewegung der Substanz im
Weltraum ist ein ewiger Kreislauf mit periodisch sich
wiederholenden Entwickelungs-Zuständen. V. Diese Phasen
bestehen in einem periodischen Wechsel der Aggregat-Zustände, wobei
zunächst die primäre Sonderung
von Massse und Aether eintritt (die Ergonomie von ponderabler und
imponderabler Materie). VI. Diese Sonderung beruht auf einer
fortschreitenden Verdichtung der Materie, der Bildung von
unzähligen kleisten Verdichtungs-Centren, wobei die immanenten
Ureigenschaften der Substanz die bewirkenden Ursachen sind:
Fühlung und Strebung. VII. Während in einem Theile des
Weltraums durch diesen pyknotischen Proceß zunächst
kleine weiterhin größere Weltkörper entstehen und
der Aether zwischen ihnen in höhere Spannung tritt, erfolgt
gleichzeitig in dem anderen Theile der entgegengesetzte Proceß, die
Zerstörung von Weltkörpern, welche auf einander
stoßen. VIII. Die ungeheuren Wärme-Quantitäten,
welche durch diese mechanischen Processe bei den
Zusammenstößen der rotirenden Weltkörper erzeugt
werden, stellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche die
Bewegung der dabei gebildeten kosmischen Staubmassen und die
Neubildung rotirender Bälle bewirken: das ewige Spiel
beginnt wieder von Neuem. Auch unsere Mutter Erde, die vor Millionen
von Jahrtausenden aus einem Theile des rotirenden Sonnen-Systems
entstanden ist, wird nach Verfluß weiterer Millionen erstarren
und, nachdem ihre Bahn immer kleiner geworden, in die Sonne
stürzen.
Besonders wichtig für die klare Einsicht in den universalen
kosmischen Entwickelungs-Proceß scheinen mir diese modernen
Vorstellungen über periodisch wechselnden Untergang und
Neubildung der Weltkörper, die wir den gewaltigen neueren
Fortschritten der Physik und Astronomie verdanken, in Verbindung mit
dem Substanz-Gesetz. Unsere Mutter "Erde" schrumpft dabei auf
den Werth eines winzigen "Sonnenstäubchens" zusammen, wie
deren ungezählte Millionen im unendlichen Weltenraum
umherjagen. Unser eigenes "Menschenwesen", welches in seinem
anthropistischen Größenwahn sich als "Ebenbild Gottes"
verherrlicht, sinkt zur Bedeutung eines placentalen Säugethiers
hinab, welches nicht mehr Werth für das ganze Universum besitzt
als die Ameise und die Eintagfliege, als das mikroskopische Infusorium
und der winzigste Bazillus. Auch wir Menschen sind nur
vorübergehende Entwickelungs-Zustände der ewigen
Substanz, individuelle Erscheinungsformen der Materie und Energie,
deren Nichtigkeit wir begreifen, wenn wir sie dem unendlichen Raum
und der unendlichen Zeit gegenüberstellen.
Raum und Zeit. Seitdem Kant die Begriffe von Raum und
Zeit als bloße "Formen der Anschauung" erklärt hat - den
Raum als Form der äußeren, die Zeit als Form der inneren
Anschauung -, hat sich über diese wichtigen Probleme der
Erkenntniß ein gewaltiger Streit erhoben, der auch heute noch
fortdauert. Bei einem großen Teile der modernen Metaphysiker hat
sich die Ansicht befestigt, daß dieser "kritischen That" als
Ausgangpunkt einer "rein idealistischen Erkenntniß-Theorie" die
größte Bedeutung beizulegen sei, und daß damit die
natürliche Ansicht des gesunden Menschen-Verstandes von der
Realität des Raumes und der Zeit wiederlegt sei. Diese
einseitige und ultraidealistische Auffassung jener beiden Grundbegriffe
ist die Quelle der größten Irrthümer geworden; sie
übersieht, daß Kant mit jenem Satze nur die eine Seite
des Problems, die subjektive, streifte, daneben aber die andere,
die objektive, als gleichberechtigt anerkannte; er sagte: "Raum
und Zeit haben empirische Realität, aber transcendentale
Idealität." Mit diesem Satze Kant's kann sich unser
moderner Monismus wohl einverstanden erklären, nicht aber mit
jener einseitigen Geltendmachung der subjektiven Seite des Problems;
denn diese führt in ihrer Konsequenz zu jenem absurden
Idealismus, der in Berkeley's Satze gipfelt: "Körper sind nur
Vorstellungen, ihr Dasein besteht im Wahrgenommenwerden". Dieser
Satz sollte heißen: "Körper sind für mein
persönliches Bewußtsein nur Vorstellungen; ihr Dasein ist
ebenso real wie daßjenige meiner Denkorgane, nämlich der
Ganglienzellen des Großhirns, welche die Eindrücke der
Körper auf meine Sinnesorgane aufnehmen und durch Associon
derselben jene Vorstellung bilden." Ebenso gut, wie ich die
"Realität von Raum und Zeit" bezweifle, oder gar leugne, kann ich
auch diejenige meines eigenen Bewußtseins leugnen; im Fieber-Delirium, in
Hallucinationen, im Traum, im Doppelbewußtsein halte
ich Vorstellungen für wahr, welche nicht real, sondern
"Einbildungen" sind; ich halte sogar meine eigene Person für eine
andere (S. 76); das berühmte "Cogito ergo sum" gilt hier
nicht mehr. Dagegen ist die Realität von Raum und Zeit jetzt
endgültig bewiesen durch die Erweiterung unserer
Weltanschauung, welche wir dem Substanz-Gesetz und der monistischen
Kosmogenie verdanken. Nachdem wir die unhaltbare Vorstellung vom
"leeren Raum" glücklich abgestreift haben, bleibt uns als das
unendliche, "raumerfüllende Medium" die Materie,
und zwar in ihren beiden Formen: Aether und Masse. Und
ebenso betrachten wir auf der anderen Seite als das
"zeiterfüllende Geschehen" die ewige Bewegung oder
genetische Energie, welche sich in der ununterbrochenen
Entwickelung der Substanz äußert, in dem
"Perpetuum mobile" des Universum.
Universum perpetuum mobile. Da jeder bewegte Körper
seine Bewegung so lange fortsetzt, als ihn nicht äußere
Umstände daran hindern, kam der Mensch schon vor
Jahrtausenden auf den Gedanken, Apparate zu bauen, die sich einmal in
Bewegung gesetzt, immerfort in derselben Weise weiter bewegen. Man
übersah dabei, daß jede Bewegung auf äußere
Hindernisse stößt und allmählich aufhört, wenn
nicht ein neuer Anstoß von außen erfolgt, wenn nicht eine
neue Kraft zugeführt wird, die jede Hindernisse überwindet.
So würde z. B. ein schwingendes Pendel in Ewigkeit mit derselben
Geschwindigkeit sich hin und her bewegen, wenn nicht Widerstand der
Luft und die Reibung im Aufhängepunkte die mechanische
lebendige Kraft seiner Bewegung aufhöben und in Wärme
verwandelten. Wir müssen ihn durch einen neuen Anstoß
(oder bei der Pendeluhr durch Aufziehen des Gewichtes) neue
mechanische Kraft zuführen. Daher ist die Konstruktion einer
Maschine, welche ohne äußere Hülfe einen einen
Arbeitsüberschuß erzeugt, durch den sie sich selbst
immerfort in Gang erhält, unmöglich. Alle Versuche, ein
solches Perpetuum mobile zu bauen, mußten fehlschlagen;
die Erkenntniß des Substanz-Gesetzes bewies sodann auch
theoretisch die Unmöglichkeit desselben.
Anders verhält es sich aber, wenn wir den Kosmos als
Ganzes in's Auge Fassen, das unendliche Weltall, welches in ewiger
Bewegung begriffen ist. Die unendliche Materie, welche objektiv
denselben erfüllt, nennen wir in unserer subjektiven Vorstellung
"Raum"; die ewige Bewegung derselben, die objektiv eine
periodische, in sich selbst zurückkehrende Entwickelung darstellt,
nennen wir subjektiv "Zeit". Diese beiden "Formen der
Anschauung" überzeugen uns von der Unendlichkeit und Ewigkeit
des Weltalls. Damit ist aber zugleich gesagt, daß das ganze
Universum selbst ein allumfassendes Perpetuum mobile
ist. Diese unendliche und ewige "Maschine des Weltalls" erhält sich
selbst in ewiger und ununterbrochener Bewegung, weil jedes
Hinderniß durch ein "Aequivalent der Energie" ausgeglichen wird,
weil die unendlich große Summe der aktuellen und
potentiellen Energie ewig dieselbe bleibt. Das Gesetz von der Erhaltung
der Kraft beweist also, daß die Vorstellung des Perpetuum
mobile für den ganzen Kosmos ebenso wahr und
fundamental bedeutend ist, wie sie für die isolierte Aktion eines
Theiles desselben unmöglich ist. Dadurch wird auch die
Lehre von der Entropie widerlegt.
Entropie des Weltalls. Der scharfsinnige Begründer der
mechanischen Wärmetheorie (1850), Clausius,
faßte den wichtigsten Inhalt dieser bedeutungsvollen Lehre in zwei
Hauptsätzen zusammen. Der erste Hauptsatz lautet: "Die Energie
des Weltalls ist konstant"; er bildet die eine Hälfte unseres
Substanz-Gesetzes, das "Energie-Princip" (S. 93). Der zweite Hauptsatz
behauptet: Die Entropie des Weltalls strebt einem Maximum zu";
dieser zweite Hauptsatz ist nach unserer Ansicht ebenso irrig, wie der
erste richtig ist. Nach der Ansicht von Clausius zerfällt die
Gesammt-Energie des Weltalls in zwei Theile, von denen der eine (als
Wärme von höherer Temperatur, als mechanische,
elektrische, chemische Energie u. s. w.) noch theilweise in Arbeit
umsetzbar ist, der andere dagegen nicht; diese letztere, die bereits in
Wärme verwandelte und in kälteren Körpern
angesammelte Energie, ist für weitere Arbeitsleistung
unwiederbringlich verloren. Diesen unverbrauchten Energie-Theil, der
nicht mehr in mechanische Arbeit umgesetzt werden kann, nennt
Clausius Entropie (d. h. die nach innen gewendete Kraft); er
wächst beständig auf Kosten des ersten Theils. Da nun
tagtäglich immer mehr mechanische Energie des Weltalls in
Wärme übergeht und diese nicht in die erstere
zurückverwandelt werden kann, muß die gesammte
(unendliche!) Quantität der Wärme und Energie immer mehr
zerstreut und herabgesetzt werden. Alle Temperatur-Unterschiede
müßten zuletzt verschwinden und die völlig gebundene
Wärme gleichmäßig in einem einzigen trägen
Klumpen von starrer Materie verbreitet sein; alles organische Leben und
alle organische Bewegung würde aufgehört haben, wenn
dieses Maximum der Entropie erreicht wäre; das wahre
"Ende der Welt" wäre da. Vergl. Felix Auerbach, Die
Weltherrin und ihr Schatten, 1902.
Wenn diese Lehre von der Entropie richtig wäre, so
müßte dem angenommenen "Ende der Welt" auch ein
ursprünglicher "Anfang" derselben entsprechen, ein
Minimum der Entropie, in welchem die Temperatur-Differenzen
der gesonderten Welttheile die größten waren. Beide
Vorstellungen sind nach unserer monistischen und streng konsequenten
Auffassung des ewigen kosmogenetischen Processes gleich unhaltbar;
beide widersprechen dem Substanz-Gesetz. Es giebt einen Anfang der
Welt ebenso wenig als ein Ende derselben. Wie das Universum
unendlich ist, so bleibt es auch ewig in Bewegung; ununterbrochen
findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft statt und
umgekehrt; und die Summe dieser aktuellen und potentiellen Energie
bleibt immer dieselbe. Der zweite Hauptsatz der mechanischen
Wärme-Theorie widerspricht dem ersten und muß
aufgegeben werden.
Die Vertheidiger der Entropie behaupten dieselbe dagegen mit Recht,
sobald sie nur einzelne Processe in's Auge fassen, bei welchen
unter gewissen Bedingungen die gebundene Wärme nicht
in Arbeit zurückberwandelt werden kann. So kann z. B. bei der
Dampfmaschine die Wärme nur dann in mechanische Arbeit
umgewandelt werden, wenn sie aus einem wärmeren Körper
(Dampf) in einen kälteren (Kühlwasser) übergeht, aber
nicht umgekehrt. Im großen Ganzen des Weltalls herrschen
aber ganz andere Verhältnisse; hier sind Bedingungen gegeben, in
denen auch die umgekehrte Verwandlung der latenten Wärme in
mechanische Arbeit stattfinden kann. So werden z. B. beim
Zusammenstoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheurer
Geschwindigkeit auf einander treffen, kolossale Wärme-Mengen
frei, während die zerstäubten Massen in den Weltraum
hinausgeschleudert und zerstreut werden. Das ewige Spiel der
rotirenden Massen mit Verdichtung der Theile, Ballung neuer kleiner
Meteoriten, Vereinigung derselben zu größeren u. s. w.
beginnt dann von Neuem. Vergl. Zehnder, Die Mechanik des
Weltalls, 1897.
II. Monistische Geogenie. Die Entwickelungsgeschichte der
Erde, auf die wir jetzt noch einen flüchtigen Blick werfen, bildet
nur einen winzig kleinen Theil von derjenigen des Kosmos. Sie ist zwar
auch gleich dieser seit mehreren Jahrtausenden Gegenstand der
philosophischen Spekulation und noch mehr der mythologischen
Dichtung gewesen; aber ihre wirklich wissenschaftliche Erkenntniß
ist viel jünger und stammt zum weitaus größten Theile
aus unserem 19. Jahrhundert. Im Princip war die Natur der Erde, als
eines Planeten der um die Sonne kreist, schon durch das Weltsystem des
Kopernikus (1543) bestimmt; durch Galilei, Keppler
und andere große Astronomen war ihr Abstand von der Sonne, ihr
Bewegungs-Gesetz u. s. w. mathematisch festgestellt. Auch war bereits
durch die Kosmogenie von Kant und Laplace der Weg
gezeigt, auf welchem sich die Erde aus der Mutter Sonne entwickelt
hatte. Aber die spätere Geschichte unsers Planeten, die Umbildung
seiner Oberfläche, die Entstehung der Kontinente und Meere, der
Gebirge und Wüsten war noch zu Ende des 18. und den ersten
beiden Decennien des 19. Jahrhunderts nur wenig Gegenstand ernster
wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen; meistens begnügte
man sich mit der Annahme der traditionellen Schöpfungssagen;
insbesondere war es auch hier wieder der überlieferte Glaube an
die mosaische Schöpfungsgeschichte, welcher der
selbstständigen Forschung von vornherein den Weg zur wahren
Erkenntniß verlegte.
Erst im Jahre 1822 erschien ein bedeutendes Werk, welches zur
wissenschaftlichen Erforschung der Erdgeschichte diejenige Methode
einschlug, die sich bald als die weitaus fruchtbarste erwies, die
ontologische Methode oder das Princip des Aktualismus.
sie besteht darin, daß wir die Erscheinungen der Gegenwart
genau studiren und benutzen, um dadurch die ähnlichen
geschichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu
erklären. die Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen
hatte daraufhin 1818 eine Preisaufgabe gestellt für: "Die
gründlichste und umfassendste Untersuchung über die
Veränderungen der Erdoberfläche, welche in der Geschichte
sich nachweisen lassen und die Anwendung, welche man von ihrer
Kunde bei Erforschung der Erdrevolutionen, die außer dem Gebiete
der Geschichte liegen, machen kann". Die Lösung dieser wichtigen
Preisaufgabe gelang Karl Hoff aus Gotha in seinem
ausgezeichneten Werke: "Geschichte der durch Ueberlieferungen
nachgewiesenen natürlichen Veränderungen der
Erdoberfläche" (in vier Bänden, 1822-1834). In
umfassendster Weise und mit größtem Erfolge wurde dann
die von ihm begründete ontologische oder aktualistische
Methode auf das gesammte Gebiet der Geologie von dem
großen englischen Geologen Charles Lyell angewendet; seine
Principien der Geologie (1830) legten den festen Grund, auf dem
die folgende Geschichte der Erde mit so glänzenden Erfolge
weiterbaute. Die bedeutungsvollen geogenetischen Forschungen von
Alexander Humboldt und Leopold Buch, von Gustav
Bischof und Eduard Süß, wie von vielen anderen
modernen Geologen stützen sich sämmtlich auf die festen
empirischen Grundlagen und spekulativen Principien, welche wir den
bahnbrechenden Untersuchungen von Karl Hoff und Charles
Lyell verdanken; sie machten der reinen, vernünftigen
Wissenschaft die Bahn frei auf dem Gebiete der Erdgeschichte; sie
entfernten die gewaltigen Hindernisse, welche auch hier die
mythologische Dichtung und die religiöse Tradition
aufgehäuft hatten, vor Allem die Bibel und die darauf
gegründete christliche Mythologie. Ich habe die großen
Verdienste von Charles Lyell und dessen Beziehungen zu seinem
Freunde Charles Darwin bereits im sechsten und
fünfzehnten Vortrage meiner "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" besprochen für die weitere
Kenntniß der Erdgeschichte und der gewaltigen Fortschritte, welche
die dynamische und historische Geologie im neunzehnten Jahrhundert
gemacht haben, verweise ist auf die bekannten Werke von
Süß, Neumayr, Credner und Johannes
Walther.
Als zwei Hauptabschnitte der Ergeschichte müssen wir vor Allem
die anorganische und organische Geogenie unterscheiden;
die letztere beginnt mit dem ersten Auftreten lebender Wesen auf
unserem Erdball. die anorganische Geschichte der Erde, der
ältere Abschnitt, verlief in derselben Weise wie diejenige der
übrigen Planeten unseres Sonnensystems; sie alle lösten sich
vom Aequator des rotirenden Sonnen-Körpers als Nebelringe ab,
welche sich allmählich zu selbstständigen Weltkörpern
verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch
Abkühlung der gluthflüssige Erdball, und weiterhin entstand
an dessen Oberfläche durch fortschreitende Wärme-Ausstrahlung die
dünne feste Rinde, welche wir bewohnen.
Erst nachdem die Temperatur an der Oberfläche bis zu einem
gewissen Grade gesunken war, konnte sich aus der umgebenden
Dampfhülle das erste tropfbar-flüssige Wasser
niederschlagen, und damit war die wichtigste Vorbedingung für
die Entstehung des organischen Lebens gegeben. Viele Millionen Jahre -
jedenfalls mehr als hundert! - sind verflossen, seitdem dieser
bedeutungsvolle Vorgang, der der Wasserbildung, eintrat und damit die
Einleitung zum dritten Hauptabschnitt der Kosmogenie, zur
Biogenie.
III. Monistische Biogenie. Der dritte Hauptabschnitt der
Weltentwickelung beginnt mit der ersten Entstehung der Organismen
auf unserem Erdball und dauert seitdem ununterbrochen bis zur
Gegenwart fort. Die großen Welträthsel, welche dieser
interessanteste Theil der Erdgeschichte uns vorlegt, galten noch im
Anfange des 19. Jahrhunderts allgemein für unlösbar oder
doch für so schwierig, daß ihre Lösung in weitester
Ferne zu liegen schien; am Ende desselben dürfen wir mit
berechtigtem Stolze sagen, daß sie durch die moderne
Biologie und ihren Transformismus im Princip gelöst
sind; ja selbst viele einzelne Erscheinungen dieses wunderbaren
"Lebensreiches" sind heute so vollkommen physikalisch erklärt
wie irgend ein wohlbekanntes physikalisches Phänomen in der
anorganischen Natur. Das Verdienst, den ersten aussichtsreichen Schritt
auf dieser schwierigen Lösung aller biologischen Probleme gezeigt
zu haben, gebührt dem geistvollen französischen
Naturforscher Jean Lamarck; er veröffentlichte 1809, im
Geburtsjahre von Charles Darwin, seine gedankenreiche
"Philosophie zoologique". In diesem originellen Werke ist nicht
allein der großartige Versuch gemacht worden, alle Erscheinungen
des organischen Lebens von einem einheitlichen Gesichtspunkte aus zu
erklären, sondern auch der Weg eröffnet, auf dem allein das
schwierigste Räthsel dieses Gebietes gelöst werden kann, das
Problem von der natürlichen Entstehung der organischen Species-Formen.
Lamarck, der gleich ausgedehnte empirische Kenntnisse
in Zoologie und Botanik besaß, entwarf hier zum ersten Male die
Grundzüge der Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie; er zeigte,
wie alle die unzähligen Formen des Thier-
und Pflanzenreiches durch allmähliche Umbildung aus
gemeinsamen einfachsten Stammformen hervorgegangen sind, und wie
die allmähliche Veränderung der Gestalten durch
Anpassung, in Wechselwirkung mit Vererbung, diese
langsame Transmutation bewirkt hat.
Im fünften Vortrage meiner "Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" habe ich die Verdienste von
Lamarck nach Gebühr gewürdigt, im sechsten und
siebenten Vortrage diejenigen seines größten Nachfolgers,
Charles Darwin (1859). Durch ihn wurden fünfzig Jahre
später nicht nur alle wichtigen Hauptsätze der Descendenz-Theorie
unwiderleglich begründet, sondern auch durch
Einführung der Selektions-Theorie oder
Züchtungslehre die Lücke ausgefüllt, welche der
Erstere gelassen hatte. Der Erfolg, welchen Lamarck trotz aller
Verdienste nicht hatte erlangen können, wurde Darwin in
reichstem Maße zu Theil; sein epochemachendes Werk "Ueber den
Ursprung der Arten durch natürliche Züchtung" hat im Laufe
der letzten vierzig Jahre die ganze moderne Biologie von Grund aus
umgestaltet und sie auf eine Stufe der Entwickelung gehoben, welche
derjenigen aller übrigen Naturwissenschaften nichts nachgiebt.
Darwin ist der Kopernikus der organischen Welt geworden, wie
ich schon 1868 aussprach und wie E. Du Bois-Reymond
fünfzehn Jahre später wiederholte. (Vergl. "Monismus", S.
39)
IV. Monistische Anthropogenie. Als vierter und letzter
Hauptabschnitt der Weltentwickelung kann für uns Menschen
derjenige jüngste Zeitraum gelten, innerhalb dessen sich unser
eigenes Geschlecht entwickelt hat. Schon Lamarck (1809) hatte
klar erkannt, daß diese Entwickelung vernünftiger Weise nur
auf einem natürlichen Wege denkbar sei, durch
"Abstammung vom Affen", als von dem nächstverwandten
Säugethiere. Huxley zeigte sodann (1863) in seiner
berühmten Abhandlung über "die Stellung des Menschen in
der Natur", daß diese bedeutungsvolle Annahme ein nothwendiger
Folgeschluß der Descendenz-Theorie und durch anatomische,
embryologische und paläontologische Thatsachen
wohlbegründet sei; er erklärte diese "Frage aller Fragen" im
Princip für gelöst. Darwin behandelte sodann dieselbe
in geistreicher Weise von verschiedenen Seiten in seinem Werke
über "die Abstammung des Menschen und die natürliche
Zuchtwahl" (1871). Ich selbst hatte schon in meiner Generellen
Morphologie (1866) diesem wichtigsten Special-Problem der
Abstammungslehre ein besonderes Kapitel gewidmet. 1874
veröffentlichte ich meine Anthropogenie, in der zum ersten
Male der Versuch durchgeführt ist, die Abstammung des
Menschen durch seine ganze Ahnenreihe bis zur ältesten
archigonen Moneren-Form hinauf zu verfolgen; ich stützte mich
dabei gleichmäßig auf die drei großen Urkunden der
Stammesgeschichte, auf die vergleichende Anatomie, Ontogenie und
Paläontologie (Fünfte umgearbeitete Auflage 1903). Wie
weit wir in den letzten Jahren durch zahlreiche wichtige Fortschritte der
anthropogenetischen Forschung gekommen sind, habe ich in dem
Vortrage gezeigt, den ich 1898 auf dem internationalen Zoologen-Kongresse in
Cambridge "über unsere gegenwärtige
Kenntniß vom Ursprung des Menschen" gehalten habe (Bonn,
siebente Auflage 1899).
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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