Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Neuntes Kapitel
Stammesgeschichte der Seele.
Monistische Studien über phylogenetische Psychologie.
Entwickelung des Seelenlebens in der thierischen Ahnenreihe des
Menschen.
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Inhalt: Stufenweise historische Entwickelung der Menschenseele
aus der Thierseele. Methoden der phylogenetischen Psychologie. Vier
Hauptstufen in der Stammesgeschichte der Seele. I. Zellseele
(Cytopsyche) der Protisten (Infusorien, Eizelle), Cellular-Psychologie. II.
Zellvereins-Seele oder Cönobial-Psyche (Cönopsyche).
Psychologie der Morula und der Blastula. III. Gewebe-Seele
(Histopsyche). Ihre Duplicität. Pflanzenseele. Seele von
nervenlosen niederen Thieren. Doppelseele der Siphonophoren
(Personal-Seele und Kormal-Seele). IV. Nervenseele (Neuropsyche) bei
höheren Thieren. Drei Bestandtheile ihres Seelen-Apparates:
Sinnesorgane, Muskeln und Nerven. Typische Bildung des
Nervenzentrums in den verschiedenen Thierstämmen.
Seelenorgan der Wirbelthiere: Markrohr oder Medullarohr (Gehirn und
Rückenmark). Seelen-Geschichte der Säugethiere.
Die Descendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthropologie hat uns
überzeugt, daß unser menschlicher Organismus aus einer
langen Reihe thierischer Vorfahren durch allmähliche Umbildung
um Laufe vieler Jahr-Millionen langsam und stufenweise sich entwickelt
hat. Da wir nun das Seelenleben des Menschen von seinen übrigen
Seelenthätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der
Ueberzeugung von der einheitlichen Entwickelung unseres ganzen
Körpers und Geistes gelangt sind, so ergiebt sich auch für die
moderne monistische Psychologie die Aufgabe, die historische
Entwickelung der Menschenseele aus der Thierseele stufenweise zu
verfolgen. Die Lösung dieser Aufgabe versucht unsere
"Stammesgeschichte der Seele" oder die Phylogenie der Psyche;
man kann sie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem
Namen der phylogenetischen Psychologie oder - im Gegensatze
zur biontischen (individuellen) - als phyletische
Psychogenie bezeichnen. Obgleich diese neue Wissenschaft noch
kaum ernstlich in Angriff genommen ist, obgleich selbst ihre
Existenz-Berechtigung von den meisten Fach-Psychologen bestritten wird,
müssen wir für sie dennoch die allerhöchste
Wichtigkeit und das größte Interesse in Anspruch nehmen.
Denn nach unserer festen Ueberzeugung ist sie vor Allem berufen, uns
das große "Welträthsel" vom Wesen und der Entstehung
unserer Seele zu lösen.
Methoden der phyletischen Psychogenie. Die Mittel und Wege,
welche zu dem weit entfernten, im Nebel der Zukunft für Viele
noch kaum erkennbaren Ziele der phylogenetischen Psychologie
hinführen sollen, sind von denjenigen anderer
stammesgeschichtlicher Forschungen nicht verschieden. Vor Allem ist
auch hier die vergleichende Anatomie, Physiologie und Ontogenie von
höchstem Werthe. Aber auch die Paläontologie liefert uns
eine Anzahl von sicheren Stützpunkten; denn die Reihenfolge, in
welcher die versteinerten Ueberreste der Vertebraten-Klassen nach
einander in den Perioden der organischen Erdgeschichte auftreten,
offenbart uns theilweise, zugleich mit deren phyletischem
Zusammenhang, auch die stufenweise Ausbildung ihrer
Seelenthätigkeit. Freilich sind wir hier, wie überall bei
phylogenetischen Untersuchungen, zur Bildung zahlreicher Hypothesen
gezwungen, welche die empfindlichen Lücken der empirischen
Stammesurkunden ausfüllen; aber dennoch werfen die letzteren
ein so helles und bedeutungsvolles Licht auf die wichtigsten
Abstufungen der geschichtlichen Entwickelung, daß wir eine
befriedigende Einsicht in deren allgemeinen Verlauf gewinnen
können.
Hauptstufen der phyletischen Psychogenie. Die vergleichende
Psychologie des Menschen und der höheren Thiere läßt
uns zunächst in den höchsten Gruppen der placentalen
Säugethiere, bei den Herrenthieren (Primates), die
wichtigen Fortschritte erkennen, durch welche die Menschen-Seele aus
der Psyche der Menschen-Affen (Anthropomorpha)
hervorgegangen ist. Die Phylogenie der Säugethiere und
weiterhin der niederen Wirbelthiere zeigt uns die lange Reihe der
älteren Vorfahren der Primaten, welche innerhalb dieses Stamms
seit der Silur-Zeit sich entwickelt haben. Alle diese Vertebraten
stimmen überein in der Struktur und Entwickelung ihres
charakteristischen Seelen-Organs, des Markrohrs. Daß dieses
"Medullar-Rohr" sich aus einem dorsalen Akroganglion oder
Scheitelhirn wirbelloser Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt uns
die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Vermalien.
Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende
Ontogenie, daß dieses einfache Seelenorgan aus der Zellenschicht
des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von
Platodarien entstanden ist; bei diesen ältesten
Plattenthieren, die noch kein gesndertes Nervensystem besitzen, wirkt
die äußere Hautdecke als universales Sinnes- und Seelen-Organ. Durch
die vergleichende Keimesgeschichte überzeugen wir
uns endlich, daß diese einfachsten Metazoen durch Gastrulation aus
Blastäaden entstanden sind, aus Hohlkugeln, deren
Wand eine einfache Zellenschicht bildete, das Blastoderm;
zugleich lernen wir durch dieselbe mit Hülfe des biogenetischen
Grundgesetzes verstehen, wie diese Protozoen-Cönobien
ursprünglich aus einfachsten einzelligen Urthieren
hervorgegangen sind.
Durch kritische Deutung dieser verschiedenen Keimbildungen, deren
Entstehung aus einander wir unmittelbar durch mikroskopische
Beobachtung verfolgen können, erhalten wir mittelst
unseres biogenetischen Grundgesetzes die wichtigsten Aufschlüsse
über die Hauptstufen in der Stammesgeschichte unseres
Seelenlebens; wir können deren zunächst acht
unterscheiden: 1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellseele:
Infusorien; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele:
Katallakten; 3. älteste Metazoen mit
Ephithelial-Seele: Platodarien; 3. wirbelose Ahnen mit
einfachem Scheitelhirn: Vermalien; 5. schädellose
Wirbelthiere mit einfachem Markrohr, ohne Gehirn;
Akranier; 6. Schädelthiere mit Gehirn (aus fünf
Hirnblasen entstanden): Kranioten; 7. Säugethiere mit
überwiegend entwickelter Großhirnrinde:
Placentalien; 8. höhere Menschen-Affen und Menschen, mit
Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen. Unter
diesen acht Hauptstufen in der Stammesgeschiche der menschlichen
Psyche lassen sich weiterhin noch eine Anzahl von untergeordneten
Entwickelungsstufen mit mehr oder weniger Klarheit unterscheiden.
Selbstverständlich sind wir aber bei deren Rekonstruktion auf
diejenigen lückenhaften Zeugnisse der empirischen Psychologie
angewiesen, welche uns die vergleichende Anatomie und Physiologie
der gegenwärtigen Fauna an die Hand giebt. Da die
Schädelthiere der sechsten Stufe, und zwar echte Fische, sich
schon im silurischen System versteinert finden, sind wir zu der Ansicht
gezwungen, daß die fünf vorhergehenden (der Versteinerung
nicht fähigen!) Ahnen-Stufen sich schon in früherer,
präsilurischer Zeit entwickelt haben.
I. Die Zellseele (Cytopsyche); erste Hauptstufe der
phyletischen Psychogenesis. Die ältesten Vorfahren des
Menschen, wie aller übrigen Thiere, waren einzellige
Urthiere (Protozoa). Diese Fundamental-Hypothese der
rationellen Phylogenie ergiebt sich nach dem biogenetischen
Grundgesetze aus der bekannten embryologischen Thatsache,
daß jeder Mensch, wie jedes andere Metazoon (jedes
vielzellige "Gewebethier"), im Beginne seiner individuellen Existenz eine
einfache Zelle ist, die "Stammzelle" (Cytula) oder die
"befruchtete Eizelle" (vergl. S. 80). Wie diese letztere schon von Anfang
an "beseelt" war, so auch jene entsprechende einzellige
Stammform, welche in der ältesten Ahnen-Reihe des
Menschen durch eine Kette von verschiedenen Protozoen
vertreten war.
Ueber die Seelenthätigkeit dieser einzelligen Organismen
unterrichtet uns die vergleichende Physiologie der heute noch lebenden
Protisten; sowohl genaue Beobachtung als sinnreiches Experiment haben
uns hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein neues
Gebiet voll höchst interessanter Erscheinungen eröffnet. Die
beste Darstellung derselben hat 1889 Max Verworn gegeben, in
seinen gedankenreichen, auf eigene originelle Versuche gestützten
"Psychophysiologischen Protisten-Studien". Auch die wenigen
älteren Beobachtungen über "das Seelenleben der Protisten"
sind darin zusammengestellt. Verworn gelangte zu der festen
Ueberzeugung, daß bei allen Protisten die psychischen
Vorgänge noch unbewußt sind, daß die
Vorgänge der Empfindung und Bewegung hier noch mit den
molekularen Lebensprocessen im Plasma selbst zusammenfallen, und
daß ihre letzten Ursachen in den Eigenschaften der
Plasma-Moleküle (der Plastidule) zu suchen sind. "Die psychischen
Vorgänge im Protistenreich sind daher die Brücke, welche
die chemischen Processe in der unorganischen Natur mit dem
Seelenleben der höchsten Thiere verbindet; sie
repräsentiren den Keim der höchsten psychischen
Erscheinungen bei den Metazoen und dem Menschen."
Die sorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experimente von
Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm
Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig und
anderen neueren Protisten-Forschern, liefern die bündigen
Beweise für meine monistische "Theorie der Zellseele"
(1866). Gestützt auf eigene langjährige Untersuchungen von
verschiedenen Protisten, besonders von Rhizopoden und Infusorien,
hatte ich schon vor 33 Jahren den Satz aufgestellt, daß jede
lebendige Zelle psychische Eigenschaften besitzt, und daß also auch
das Seelenleben der vielzelligen Thiere und Pflanzen nichts Anderes ist
als das Resultat der psychischen Funktionen der ihren Leib
zusammensetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen (z. B. Algen und
Spongien) sind alle Zellen des Körpers
gleichmäßig (oder mit geringen Unterschieden) daran
betheiligt; in den höheren Gruppen dagegen, entsprechend den
Gesetzen der Arbeitstheilung, nur ein auserlesener Theil derselben, die
"Seelenzellen". die bedeutungsvollen Konsequenzen dieser
"Cellular-Psychologie" hatte ich theils 1876 in meiner Schrift über
die
"Perigenesis der Pladistule" erörtert, theils 1877 in meiner
Münchener Rede "über die heutige Entwickelungslehre im
Verhältniß zur Gesammtwissenschaft". Eine mehr
populäre Darstellung derselben enthalten meine beiden Wiener
Vorträge (1878) "über Ursprung und Entwickelung der
Sinneswerkzeuge" und "über Zellseelen und Seelenzellen".
Die einfache Zellseele zeigt übrigens schon innerhalb des
Protistenreiches eine lange Reihe von Entwickelungsstufen, von ganz
einfachen, primitiven bis zu sehr vollkommenen und hohen Seelen-Zuständen.
Bei den ältesten und einfachsten Protisten ist das
Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig
auf das ganze Plasma des homogenen Körperchens vertheilt; bei
den höheren Formen dagegen sondern sich als physiologische
Organe derselben besondere "Zellwerkzeuge" oder Organelle.
Derartige motorische Zelltheile sind die Pseudopodien der Rhizopoden,
die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infusorien. Als ein
inneres Central-Organ des Zellenlebens wird der Zellkern betrachtet,
welcher den ältesten und niedersten Protisten noch fehlt. In
physiologisch-chemischer Beziehung ist besonders hervorzuheben,
daß die ursprünglichsten und ältesten Protisten
Plasmodomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechsel, also
Protophyten oder "Urpflanzen"; aus ihnen entstanden erst
sekundär durch Metasitismus, die ersten Plasmophagen,
mit thierischen Stoffwechsel, also Protozoen oder "Urthiere".
Dieser Metasitismus, die "Umkehrung des Stoffwechsels",
bedeutete einen wichtigen physiologischen Fortschritt; denn damit
begann die Entwickelung jener charakteristischen Vorzüge der
Thierseele, welche der Pflanzenseele noch fehlen.
Die höchste Ausbildung der thierischen Zellseele treffen wir in der
Klasse der Ciliaten oder Wimper-Infusorien. Wenn wir
dieselbe mit den entsprechenden Seelenthätigkeiten höherer
vielzelliger Thiere vergleichen, so scheint kaum ein psychologischer
Unterschied zu bestehen; die sensiblen und motorischen Organelle jener
Protozoen scheinen dasselbe zu leisten wie die Sinnesorgane, Nerven
und Muskeln dieser Metazoen. Man hat sogar in dem großen
Zellkern (Meganucleus) der Infusorien ein Central-Organ der
Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem einzelligen Organismus
eine ähnliche Rolle spiele wie das Gehirn im Seelenleben
höherer Thiere. Indessen ist sehr schwer zu entscheiden, wie weit
diese Vergleiche berechtigt sind; auch gehen darüber die
Ansichten der speciellen Infusorien-Kenner weit auseinander. Die Einen
fassen alle spontanen Körperbewegungen derselben als
automatische oder impulsive, alle Reiz-Bewegungen als Reflexe auf; die
Anderen erblicken darin theilweise willkürliche und absichtliche
Bewegungen. Während die Letzteren den Infusorien bereits ein
gewisses Bewußtsein, eine einheitliche Ich-Vorstellung
zuschreiben, wird diese von den Ersteren geleugnet. Gleichviel, wie man
diese höchst schwierige Frage entscheiden will, so steht doch
soviel fest, daß uns diese einzelligen Protozoen eine
hochentwickelte Zellseele zeigen, welche für die richtige
Beurtheilung der Psyche unserer ältesten einzelligen Vorfahren
von höchstem Interesse ist.
II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-Psyche
(Coenopsyche); zweite Hauptstufe der phyletischen
Psychogenesis. Die individuelle Entwickelung beginnt beim
Menschen wie bei allen anderen vielzelligen Thieren mit der
wiederholten Theilung einer einfachen Zelle. Die Stammzelle
(Cytula) oder die "befruchtete Eizelle" zerfällt durch den
Vorgang der gewöhnlichen indirekten Zelltheilung zunächst
in zwei Tochterzellen; indem dieser Vorgang sich wiederholt, entstehen
(bei der "äqualen Eifurchung") nach einander 4, 8, 16, 32, 64
gleiche "Furchungszellen oder Blastomeren". Gewöhnlich (d. h. bei
der Mehrzahl der Thiere) tritt an die Stelle dieser ursprünglichen,
gleichmäßigen Zelltheilung früher oder später
dasselbe: die Bildung eines (meist kugelförmigen) Haufens oder
Ballens von indifferenten (ursprünglich gleichartigen) Zellen. Wir
nennen diesen Zustand den Maulbeerkeim (Morula; vgl.
Anthropogenie S. 57). Gewöhnlich sammelt sich dann im Innern
dieses maulbeerförmigen Zellen-Aggregates Flüssigkeit an;
es verwandelt sich in Folge dessen in ein kugeliges Bläschen; alle
Zellen treten an dessen Oberfläche und ordnen sich in eine
einfache Zellenschicht, die Keimhaut (Blastoderma). Die so
entstandene Hohlkugel ist der bedeutungsvolle Zustand der
Keimblase (Blastula oder Blastosphaera,
Anthropogenie S. 57).
Die psychologischen Thatsachen, welche wir unmittelbar bei der
Bildung der Blastula beobachten können, sind theils Bewegungen,
theils Empfindungen dieses Zellvereins. Die Bewegungen zerfallen
in zwei Gruppen: 1. die inneren Bewegungen, welche überall in
wesentlich gleicher Weise beim Vorgange der gewöhnlichen
(indirekten) Zelltheilung sich wiederholen (Bildung der Kernspindel,
Mitose, Karyokinese u. s. w.); 2. die äußeren Bewegungen,
welche in der gesetzmäßigen Lage-Veränderung der
geselligen Zellen und ihrer Gruppirung bei Bildung des Blastoderms zu
Tage treten. Wir fassen diese Bewegungen als heredive und
unbewußte auf, weil sie überall in gleicher Weise durch
Vererbung von den älteren Ahnenreihen der Protisten bedingt
sind. Die Empfindungen können ebenfalls in zwei Gruppen
unterschieden werden: 1. die Empfindungen der einzelnen Zellen, welche
sich in der Behauptung ihrer individuellen Selbstständigkeit und
ihrem Verhalten gegen die Nachbar-Zellen äußern (mit denen
sie in Kontakt und theilweise durch Plasma-Brücken in direkter
Verbindung stehen); 2. die einheitliche Empfindung des ganzen
Zellvereins oder Cönobiums, welche in der individuellen
Gestaltung der Blastula als Hohlkugel zu Tage tritt
(Anthropogenie S. 491).
Das kausale Verständniß der Blastula-Bildung liefert
uns das biogenetische Grundgesetz, indem es die unmittelbar zu
beobachtenden Erscheinungen derselben durch die Vererbung
erklärt und auf entsprechende historische Vorgänge
zurückführt, welche sich ursprünglich bei der
Entstehung der ältesten Protisten-Cönobien, der
Blastäaden, vollzogen haben (Syst. Phyl. III, ¤¤ 22-26). Die
physiologische und psychologische Einsicht in diese wichtigen Prozesse
der ältesten Zellen-Associon gewinnen wir aber durch
Beobachtung und Experiment an den heute noch lebenden
Cönobien. Solche beständige Zellvereine oder
Zellhorden (auch als Zellkolonien, Zellgemeinden oder
Zellstöckchen bezeichnet) sind noch heute sehr verbreitet, sowohl
unter den plasmodomen Urpflanzen (z. B. Paulomeen, Diatomeen,
Volvocinen) als unter den plasmaphagen Urthieren (Infusorien
und Rhizopoden). In allen diesen Cönobien können wir
bereits neben einander zwei verschiedene Stufen der psychischen
Thätigkeit unterscheiden: I. die Zellseele der einzelnen
Zell-Individuen (als "Elementar-Organismen") und II. die
Cönobialseele des ganzen Zellvereins.
III. Gewebe-Seele (Histopsyche); dritte Hauptstufe der
phyletischen Psychogenesis. Bei allen vielzelligen und
gewebebildenden Pflanzen (den Metaphyten oder Gewebe-Pflanzen) und
ebenso bei den niedersten, nervenlosen Klassen der
Gewebethiere (Metazoen) haben wir zunächst zwei
verschiedene Formen der Seelenthätigkeit zu unterscheiden,
nämlich A. die Psyche der einzelnen Zellen, welche die
Gewebe zusammensetzen, und B. die Psyche der Gewebe selbst
oder des "Zellenstaates", welcher von diesen gebildet wird. Diese
Gewebe-Seele ist überall die höhere psychologische
Funktion, welche den zusammengesetzten vielzelligen Organismus als
einheitliches Bion oder "physiologisches Individuum", als
wirklichen "Zellenstaat" erscheinen läßt. Sie beherrscht alle
die einzelnen "Zellseelen" der socialen Zellen, welche als abhängige
"Staatsbürger" den einheitlichen Zellenstaat konstituiren. Diese
fundamentale Duplicität der Psyche bei den Metaphyten
und bei den niederen, nervenlosen Metazoen ist sehr wichtig; sie wird
durch unbefangene Beobachtung und passenden Versuch unmittelbar
bewiesen: erstens besitzt jede einzelne Zelle ihre eigene Empfindung und
Bewegung, und zweitens zeigt jedes Gewebe und jedes Organ, das aus
einer Zahl gleichartiger Zellen sich zusammensetzt, seine besondere
Reizbarkeit und psychische Einheit (z. B. Pollen und
Staubgefäße).
III. A. Die Pflanzen-Seele (Phytopsyche) ist für uns der
Inbegriff der gesammten psychischen Thätigkeit der
gewebebildenden, vielzelligen Pflanzen (Metaphyten, nach
Ausschluß der einzelligen Protophyten); sie ist Gegenstand
der verschiedensten Beurtheilung bis auf den heutigen Tag geblieben.
Früher fand man gewöhnlich einen Hauptunterschied
zwischen Pflanzen und Thieren darin, daß man den letzteren
allgemein eine "Seele" zuschrieb, den ersteren dagegen nicht. Indessen
führte unbefangene Vergleichung der Reizbarkeit und der
Bewegungen bei verschiedenen höheren Pflanzen und niederen
Thieren schon im Anfange des 19. Jahrhunderts einzelne Forscher zu der
Ueberzeugung, daß beide gleichmäßig beseelt sein
müßten. Später traten namentlich Fechner,
Leitgeb u. A. lebhaft für die Annahme einer "Pflanzen-Seele"
ein. Tieferes Verständniß derselben wurde erst
erworden, nachdem durch die Zellentheorie (1838) die gleiche
Elementar-Struktur in Pflanzen und Thieren nachgewiesen, und
besonders seitdem durch die Plasma-Theorie von Max
Schultze (1859) das gleiche Verhalten des aktiven, lebendigen
Protoplasten in beiden erkannt worden war. Die neuere vergleichende
Physiologie (seit 30 Jahren) zeigte sodann, daß das physiologische
Verhalten gegen verschiedene Reize (Licht, Elektricität,
Wärme, Schwere, Reibung, chemische Einflüsse u. s. w.) in
den "empfindlichen" Körpertheilen vieler Pflanzen und
Thiere ganz ähnlich ist, und daß auch die Reflex-Bewegungen,
die jene Reize hervorrufen, ganz ähnlichen
Verlauf haben. Wenn man daher diese Thätigkeiten bei den
niederen, nervenlosen Metazoen (Schwämmen, Polypen) einer
besondere "Seele" zuschrieb, so war man berechtigt, dieselbe auch bei
vielen (oder eigentlich allen) Metaphyten anzunehmen, mindestens bei
den sehr "empfindlichen" Sinnpflanzen (Mimosa), den
Fliegenfallen (Dionaea, Drosera) und den zahlreichen
rankenden Kletter- und Schlingpflanzen.
Allerdings hat nun die neuere Pflanzen-Physiologie viele dieser
"Reizbewegungen" oder Tropismen rein physikalisch
erklärt, durch besondere Verhältnisse des Wachsthums,
durch Turgor-Schwankungen u. s. w. Allein diese mechanischen
Ursachen sind nicht mehr und nicht minder psychophysisch als
die ähnlichen "Reflex-Bewegungen" bei Spongien, Polypen und
anderen nervenlosen Metazoen, selbst wenn der Mechanismus
derselben hier wesentlich verschieden ist. Der Charakter der
Histospyche oder Gewebe-Seele zeigt sich in beiden
Fällen gleichmäßig darin, daß die Zellen des
Gewebes (des gesetzmäßig geordneten Zellverbandes) die von
einem Theile empfangenen Reize fortleiten und dadurch Bewegungen
anderer Theile oder des ganzen Organs hervorrufen. Diese
Reizleitung kann hier ebenso als "Seelenthätigkeit"
bezeichnet werden wie die vollkommenere Form derselben bei den
Nerventhieren; sie erklärt sich anatomisch dadurch daß die
socialen Zellen des Gewebes oder Zellverbandes nicht (wie man
früher glaubte) getrennt an einander liegen, sondern überall
durch feine Plasmafäden oder Brücken
zusammenhängen. Wenn die empfindlichen Sinnpflanzen
(Mimosen) bei der Berührung oder Erschütterung ihre
ausgebreiteten Fiederblättchen schließen und die Blattstiele
herabsenken, wenn die reizbare Fliegenfalle (Dionaea) bei der
Berührung ihrer Blätter diese rasch zusammenklappt und
die Fliege fängt, so erscheint die Empfindung lebhafter, die
Reizleitung schneller und die Bewegung energischer als die Reflex-Reaktion des
gereizten Badeschwammes und vieler anderer Spongien.
III. B. Die Seele nervenloser Metazoen. Von ganz besonderem
Interesse für die vergleichende Psychologie im Allgemeinen und
für die Phylogenie der Thierseele im Besonderen ist die
Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche zwar
Gewebe und oft bereits differenzirte Organe besitzen, aber weder
Nerven noch spezifische Sinnesorgane. Dahin gehören vier
verschiedene Gruppen von ältesten Cölenterien oder
Niederthieren, nämlich: 1. die Gasträaden, 2. die
Platodarien, 3. die Spongien und 4. die
Hydropolypen, die niedersten Formen der Nesselthiere.
Die Gasträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine
Gruppe von niedersten Cölenterien, welche als die gemeinsame
Stammgruppe aller Metazoen von höchster Wichtigkeit ist. Der
Körper dieser kleinen, schwimmenden Thierchen erscheint als ein
kleines (meist eiförmiges) Bläschen, welche eine einfache
Höhle mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die
Wand der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen
Zellenschichten oder Epithelien gebildeet, von denen die innere
(Darmblatt) die vegetalen Thätigkeiten der Ernährung, und
die äußere (Hautblatt) die animalen Funktionen der
Bewegung und Empfindung vermittelt. Die gleichartigen sensiblen Zellen
dieses Hautblattes tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren
Schwingungen die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die
wenigen noch lebenden Formen der Gasträaden, die
Gastremarien (Trichoplaciden) und Cyemarien
(Orthonectiden), sind deshalb so interessant, weil sie zeitlebens
auf derselben Bildungsstufe stehen bleiben, welche die Keime aller
übrigen Metazoen (von den Spongien bis zum Menschen hinauf)
im Beginne ihrer Keimes-Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner
Gasträa-Theorie (1872) gezeigt habe, entsteht bei
sämmtlichen Gewebethieren zunächst aus der vorher
betrachteten Blastula (S. 180) eine höchst charakteristische
Keimform, die Gastrula. Die Keimhaut (Blastoderma),
welche die Wand der Hohlkugel darstellt, bildet an einer Seite eine
grubenförmige Vertiefung, und diese wird bald zu einer so tiefen
Einstülpung, daß der innere Hohlraum der Keimblase
verschwindet. Die eingestülpte (innere) Hälfte der Keimhaut
legt sich an die äußere (nicht eingestülpte) Hälfte
innen an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere
Keimblatt (Ektoderm, Epiblast). Der neu entstandene
Hohlraum des becherförmigen Körpers ist die verdauende
Magenhöhle, der Urdarm (Progaster), seine Oeffnung
der Urmund (Prostoma). Das Hautblatt oder Ektoderm ist
bei allen Metazoen das ursprüngliche "Seelenorgan"; denn
aus ihm entwickeln sich bei sämmtlichen Nerventhieren nicht nur
die äußere Hautdecke und die Sinnesorgane, sondern auch
das Nervensystem. Bei den Gasträaden,welche letzteres noch nicht
besitzen, sind alle Zellen, welche die einfache Epithelschicht des
Ektoderm zusammensetzen, gleichmäßig Organe der
Empfindung und Bewegung; die Gewebe-Seele zeigt sich hier in
einfachster Form.
Dieselbe primitive Bildung scheinen auch noch die Platodarien zu
besitzen, die ältesten und einfachsten Formen der
Plattenthiere (Platodes). Einige von diesen
Kryptocölen (Convoluta u. s. w.) haben noch kein gesondertes
Nervensystem, während dasselbe bei ihren
nächstverwandten Epigonen, den Strudelwürmern
(Turbellaria), bereits von der Hautdecke sich abgesondert und ein
einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.
Die Spongien oder Schwammthiere stellen einen
selbstständigen Stamm des Thierreichs dar, der sich von allen
anderen Metazoen durch seine eigenthümliche Organisation
unterscheidet; die sehr zahlreichen Arten desselben sitzen meistens auf
dem Meeresboden angewachsen. Die einfachste Form der
Schwämme, Olynthus, ist eigentlich nichts weiter als eine
Gastraea, deren Körperwand siebförmig von feinen
Poren durchbrochen ist, zum Eintritt des ernährenden
Wasserstromes. Bei den meisten Spongien (auch beim bekanntesten,
dem Badeschwamm) bildet der knollenförmige Körper eine
Stock oder Kormus, welcher aus Tausenden solcher Gasträaden
("Geißelkammern") zusammengesetzt und von einem
ernährenden Kanal-System durchzogen ist. Empfindung und
Bewegung sind bei den Schwammthieren nur in äußerst
geringem Maße entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln
fehlen. Es war daher sehr natürlich, daß man diese
festsitzenden, unförmigen und unempfindlichen Thiere
früher allgemein als "Gewächse" betrachtete. Ihr
Seelenleben (für welches keine besonderen Organe differenzirt
sind) steht tief unter demjenigen der Mimosen und anderer
empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Nesselthiere (Cnidaria) ist für die
vergleichende und phylogenetische Psychologie von ganz
hervorragender Bedeutung. Denn in diesem formenreichen Stamm der
Cölenterien vollzieht sich vor unseren Augen die historische
Entstehung der Nervenseele aus der Gewebeseele. Es
gehören zu diesem Stamme die vielgestaltigen Klassen der
festsitzenden Polypen und Korallen, der schwimmenden Medusen und
Siphonophoren. Als gemeinsame hypothetische Stammform aller
Nesselthiere läßt sich mit voller Sicherheit ein einfachster
Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden
Süßwasser-Polypen (Hydra) im Wesentlichen gleich
gebaut war. Nun besitzen aber diese Hydra und ebenso die
festsitzenden, nahe verwanten Hydropolypen noch keine Nerven
und höheren Sinnesorgane, obgleich sie sehr empfindlich sind.
Dagegen die frei schwimmenden Medusen, welche sich aus
letzteren entwickeln (und noch heute mit ihnen durch
Generationswechsel verknüpft sind), besitzen bereits ein
selbstständiges Nerven-System und gesonderte Sinnesorgane. Wir
können also hier den historischen Ursprung der
Nervenseele (Neurospyche) aus der Gewebeseele
(Histospyche) unmittelbar ontogenetisch beobachten und
phylogenetisch verstehen lernen. Diese Erkenntniß ist um so
interessanter, als jene bedeutungsvollen Vorgänge
polyphyletisch sind, d. h. sich mehrmals (mindestens zweimal)
unabhängig von einander vollzogen haben. Wie ich nachgewiesen
habe, sind die Hydromedusen (oder Kraspedoten) entstanden aus
den Skyphopolypen; der Knospungsvorgang ist bei den letzteren
terminal, bei den ersteren lateral. Auch zeigen beide Gruppen
charakterische erbliche Unterschiede im feineren Bau ihrer Seelen-Organe. Sehr
interessant ist für die Psychologie auch die Klasse der
Staatsquallen (Siphonophorae). An diesen prächtigen,
frei schwimmenden Thierstöcken, welche von Hydromedusen
abstammen, können wir eine Doppelseele beobachten: die
Einzelseele (Personal-Seele) der zahlreichen Personen, die ihn
zusammensetzen, und die gemeinsame, einheitlich thätige Psyche
des ganzen Stockes (Kormal-Seele). Vergl. "Zellseelen und
Seelenzellen" (Gem. Vortr. 1902, I.).
IV. Die Nerven-Seele (Neuropsyche); vierte Hauptstufe
der phyletischen Psychogenesis. Das Seelenleben aller
höheren Thiere wird, ebenso wie beim Menschen, durch einen
mehr oder minder komplicirten "Seelen-Apparat" vermittelt, und
dieser besteht immer aus drei Hauptbestandtheilen: die Sinnes-Organe
bewirken die verschiedenen Empfindungen, die
Muskeln dagegen die Bewegungen; die Nerven stellen die
Verbindung zwischen ersteren und letzteren durch ein besonderes
Central-Organ her: Gehirn oder Ganglion (Nervenknoten).
Die Einrichtung und Thätigkeit dieses Seelen-Apparates pflegt
man mit einem elektrischen Telegraphen-System zu vergleichen; die
Nerven sind die Leitungsdrähte, das Gehirn die Central-Station, die
Muskeln und Sensillen die untergeordneten Lokal-Stationen. Die
motorischen Nervenfasern leiten die Willens-Befehle oder Impulse
centrifugal von diesem Nervencentrum zu den Muskeln und bewirken
durch deren Kontraktion Bewegungen; die sensiblen Nervenfasern
dagegen leiten die verschiedenen Empfindungen centripetal von den
peripheren Sinnesorganen zum Gehirn und statten Bericht ab von den
empfangenen Eindrücken der Außenwelt. Die Ganglienzellen
oder "Seelenzellen", welche das nervöse Central-Organ
zusammensetzen, sind die vollkommensten von allen organischen
Elementar-Theilen; denn sie vermitteln nicht nur den Verkehr zwischen
den Muskeln und Sinnesorganen, sondern auch die höchsten von
allen Leistungen der Thierseele, die Bildung von Vorstellungen und
Gedanken, an der Spitze von Allem das Bewußtsein.
Die großen Fortschritte der Anatomie und Physiologie, der
Histologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unsere tiefere
Kenntniß des Seelen-Apparates mit einer Fülle der
interessantesten Entdeckungen bereichert. Wenn die spekulative
Philosophie auch nur die wichtigsten von diesen bedeutungsvollen
Erwerbungen der empirischen Biologie in sich aufgenommen hätte,
müßte sie heute schon eine ganz andere Physiognomie
zeigen, als es leider der Fall ist. Da eine eingehende Besprechung
derselben uns hier zu weit führen würde, beschränke
ich mich darauf, nur das Wichtigste hervorzuheben.
Jeder der höheren Thierstämme besitzt sein
eigenthümliches Seelen-Organ; in jedem ist das Central-Nervensystem durch
eine besondere Gestalt, Lage und
Zusammensetzung ausgezeichnet. Unter den strahlig gebauten
Nesselthieren (Cnidaria) zeigen die Medusen einen
Nervenring am Schirmrande, meistens mit vier oder acht Ganglien
ausgestattet. Bei den fünfstrahligen Sternthieren
(Echinoderma) ist der Mund von einem Nervenring umgeben, von
welchem fünf Nervenstämme ausstrahlen. Die zweiseitig-symmetrischen
Plattenthiere (Platodes) und
Wurmthiere (Vermalia) besitzen ein Scheitelhirn oder
Akroganglion, zusammengesetzt aus ein paar dorsalen, oberhalb des
Mundes gelegenen Ganglien; von diesen "oberen Schlundknoten" gehen
zwei seitliche Nerven-Stämme an die Haut und die Muskeln. Bei
einem Theile der Vermalien und bei den Weichthieren
(Mollusca) treten dazu noch ein paar ventrale "untere
Schlundknoten", welche sich mit den ersteren durch einen den Schlund
umfassenden Ring verbinden. Dieser "Schlundring" kehrt auch bei den
Gliederthieren (Articulata) wieder, setzt sich aber hier auf
der Bauchseite des langgestreckten Körpers in ein "Bauchmark"
fort, einen strickleiterförmigen Doppelstrang, welcher in jedem
Gliede zu einem Doppel-Ganglion anschwillt. Ganz entgegengesetzte
Bildung des Seelen-Organs zeigen die Wirbelthiere
(Vertebrata); hier findet sich allgemein auf der Rückenseite
des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark
entwickelt; aus einer Anschwellung seines vorderen Theiles entsteht
später das charakteristische blasenförmige Gehirn.
Obgleich nun so die Seelen-Organe der höheren
Thierstämme in Lage, Form und Zusammensetzung sehr
charakteristische Verschiedenheiten zeigen, ist doch die vergleichende
Anatomie im Stande gewesen, für die meisten einen gemeinsamen
Ursprung nachzuweisen, aus dem Scheitelhirn der
Platoden und Vermalien; und allen gemeinsam ist die
Entstehung aus der äußersten Zellenschicht des Keimes, aus
dem "Hautsinnesblatt" (Ektoderm). Ebenso finden wir in
allen Formen der nervösen Centralorgane dieselbe wesentliche
Struktur wieder, die Zusammensetzung aus Ganglien-Zellen oder
"Seelenzellen" (den eigentlichen aktiven Elementar-Organen der
Psyche) und aus Nervenfasern, welche den Zusammenhang
und die Leitung der Aktion vermitteln.
Seelen-Organ der Wirbelthiere. Die erste Thatsache, welche
uns in der vergleichenden Psychologie der Vertebraten entgegentritt,
und welche der empirische Ausgangspunkt jeder wissenschaftlichen
Seelenlehre des Menschen sein sollte, ist der charakteristische Bau ihres
Central-Nervensystems. Wie dieses centrale Seelen-Organ in jedem der
höheren Thierstämme eine besondere, diesem
eigenthümliche Lage, Gestalt und Zusammensetzung zeigt, so ist es
auch bei den Wirbelthieren der Fall. Ueberall finden wir hier ein
Rückenmark vor, einen starken cylindrischen
Nervenstrang, welcher in der Mittellinie des Rückens
verläuft, oberhalb der Wirbelsäule (oder der sie
vertretenden Chorda). Ueberall gehen von diesem Rückenmark
zahlreiche Nervenstämme in regelmäßiger, segmentaler
Vertheilung ab, je ein Paar an jedem Segment oder Wirbelgliede.
Ueberall entsteht dieses "Medullar-Rohr" im Embryo auf gleiche Weise:
in der Mittellinie der Rückenhaut bildet sich eine feine Furche
oder Rinne; die beiden parallelen Ränder dieser Markrinne oder
Medullar-Rinne erheben sich, krümmen sich gegen
einander und verwachsen in der Mittellinie zu einem Rohre.
Das lange dorsale, so entstandene cylindrische Nervenrohr oder
Medullar-Rohr ist durchaus für die Wirbelthiere
charakteristisch, in der frühen Embryonal-Anlage überall
dasselbe und die gemeinsame Grundlage aller der verschiedenen
Formen des Seelen-Organs, die sich später daraus entwickeln. Nur
eine einzige Gruppe von wirbellosen Thieren zeigt eine ähnliche
Bildung; das sind die seltsamen meerbewohnenden Mantelthiere
(Tunicata), die Kopelaten, Ascidien und
Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen
Eigenthümlichkeiten des Körperbaues (besonders in der
Bildung der Chorda und des Kiemendarmes) auffallende Unterschiede zu
den übrigen Wirbellosen und Uebereinstimmung mit den
Wirbelthieren. Wir nehmen daher jetzt an, daß beide
Thierstämme, Vertebraten und Tunikaten, aus einer
gemeinsamen älteren Stammgruppe von Vermalien
hervorgegangen sind, aus den Prochordoniern. Ein wichtiger
Unterschied beider Stämme besteht darin, daß der
Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und eine sehr
einfache Organisation behält (die meisten sitzen später auf
dem Meeresboden fest und werden rückgebildet). Bei den
Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteristische
innere Gliederung des Körpers ein, die
"Urwirbelbildung" (Vertebratio). Diese vermittelt die weit
höhere morphologische und physiologische Ausbildung ihres
Organismus, welche zuletzt im Menschen die höchste Stufe der
Vollkommenheit erreicht. Sie prägt sich auch frühzeitig
schon in der feineren Struktur ihres Markrohres aus, in der
Entwickelung zahlreicher segmentaler Nervenpaare, die als
Rückenmarks-Nerven oder "Spinal-Nerven" an die einzelnen
Körpersegmente gehen.
Phyletische Bildungsstufen des Medullar-Rohrs. Die lange
Stammesgeschichte unserer "Wirbelthier-Seele" beginnt mit der Bildung
des einfachsten Medullar-Rohrs bei den ältesten
Schädellosen; sie führt uns durch einen Zeitraum von vielen
Millionen Jahren langsam und allmählich bis zu jenem
komplicirten Wunderbau des menschlichen Gehirns hinauf, welcher
diese höchstentwickelte Primaten-Form zu einer vollkommenen
Ausnahme-Stellung in der Natur zu berechtigen scheint. Da eine klare
Vorstellung von diesem langsamen und stetigen Gange unserer
phyletischen Psychogenie die erste Vorbedingung einer wirklich
naturgemäßen Psychologie ist, erscheint es
zweckmäßig, jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von
Stufen oder Hauptabschnitten einzutheilen; in jedem derselben hat sich
gleichmäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch seine
Funktion, die "Psyche" vervollkommnet. Ich unterscheide acht solche
Perioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs, charakterisirt
durch acht verschiedene Hauptgruppen der Wirbelthiere; nämlich
I. die Schädellosen (Acrania), II. die Rundmäuler
(Cyclostoma), III. die Fische (Pisces), IV. die Lurche
(Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere
(Monotrema und Marsupialia), VI. die älteren
placentalen Säugethiere, besonders die Halbaffen
(Prosimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die echten
Affen (Simiae), VIII. die Menschenaffen und der Mensch
(Anthropomorpha).
I. Erste Stufe: Schädellose (Acrania), heute nur noch
vertreten durch den Lanzelot (Amphioxus); das Seelenorgan bleibt
auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs stehen und stellt ein
gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn.
II. Zweite Stufe: Rundmäuler (Cyclostoma), die
älteste Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute
noch vertreten durch die Pricken (Petromyzontes) und die Inger
(Myxinoides); das Vorderende des Markrohrs schwillt zu einer
Blase an, welche sich in fünf hinter einander liegende Hirnblasen
sondert (Großhirn, Zwischenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn);
diese fünf Hirnblasen bilden die gemeinsame Grundlage, aus
welcher sich das Gehirn sämmtlicher Schädelthiere
entwickelt, von den Pricken bis zum Menschen hinauf. III. Dritte Stufe;
Urfische (Selachii), ähnlich den heutigen Haifischen;
bei diesen ältesten Fischen, von denen alle Kiefermäuler
Gnathostoma) abstammen beginnt die stärkere Sonderung
der fünf gleichartigen Hirnblasen. IV. Vierte Stufe: Lurche
(Amphibia). Mit dieser ältesten Klasse der
landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerst in der Steinkohlen-Periode
erscheinen, beginnt die characteristische Körperbildung der
Vierfüßer (Tetrapoda) und eine entsprechende
Umbildung des Fischgehirns; sie schreitet weiter fort in ihren
permischen Epigonen, den Reptilien, deren älteste
Vertreter, die Stammreptilien (Tocosauria), die gemeinsamen
Stammformen aller Amnioten sind (der Reptilien und Vögel
einerseits, der Säugethiere andererseits). V. bis VIII. Fünfte
bis achte Stufe: Säugethiere (Mammalia).
Die Bildungsgeschichte unseres Nervensystems und die damit
verknüpfte Stammesgeschichte unserer Seele habe ich in meiner
"Anthropogenie" ausführlich behandelt und durch
zahlreiche Abbildungen erläutert (V. Aufl., 24. Vortrag). Ich
muß daher hier darauf verweisen, sowie auf die Anmerkungen, in
denen ich einige der wichtigsten Thatsachen besonders hervorgehoben
habe. Dagegen lasse ich hier noch einige Bemerkungen über den
letzten und interessantesten Theil derselben folgen, über die
Entwickelung der Seele und ihrer Organe innerhalb der
Säugethier-Klasse: ich erinnere dabei besonders daran,
daß der monophyletische Ursprung dieser Klasse, die
Abstammung aller Säugethiere von einer gemeinsamen
Stammform (der Trias-Periode), jetzt sicher festgestellt. ist.
Seelen-Geschichte der Säugethiere. Der wichtigste
Folgeschluß, welcher sich aus dem monophyletischen Ursprung der
Säugethiere ergiebt, ist die nothwendige Ableitung der
Menschen-Seele aus einer langen Entwickelungs-Reihe von
anderen Mammalien-Seelen. Eine gewaltige anatomische und
physiologische Kluft trennt den Gehirnbau und das davon
abhängige Seelenleben der höchsten und der niedersten
Säugethiere, und dennoch wird diese tiefe Kluft durch eine lange
Reihe von vermittelnden Zwischen-Stufen vollständig
aufgefüllt. Der Zeitraum von mindestens vierzehn (nach anderen
Berechnungen mehr als hundert!) Millionen Jahren, welcher seit Beginn
der Trias-Periode verfloß, genügt aber vollständig,
selbst die größten psychologischen Fortschritte zu
ermöglichen. Die allgemeinsten Ergebnisse der wichtigen,
neuerdings hier tief eingedrungenen Forschungen sind folgende: I. Das
Gehirn der Säugethiere unterscheidet sich von demjenigen der
übrigen Vertebraten durch gewisse Eigenthümlichkeiten,
welche allen Gliedern der Klasse gemeinsam sind, vor Allem die
überwiegenden Ausbildung der ersten und vierten Blase, des
Großhirns und Kleinhirns, während die dritte Blase, das
Mittelhirn, ganz zurücktritt. II. Trotzdem schließt sich die
Hirnbildung der niedersten und ältesten Mammalien
(Monotremen, Marsupialien, Prochoriaten) noch eng
an diejenige ihrer paläozoischen Vorfahren an, der karbonischen
Amphibien (Stegocephalen) und der permischen Reptilien
(Tocosaurier). III. Erst während der Tertiär-Zeit
erfolgt die typische volle Ausbildung des Großhirns, welche die
jüngeren Säugethiere so auffallend vor den älteren
auszeichnet. IV. Die besondere (quantitative und qualitative)
Ausbildung des Großhirns, welche den Menschen so hoch erhebt,
und welche ihn zu seinen vorzüglichen psychischen Leistungen
befähigt, findet sich außerdem nur bei einem There der
höchstentwickelten Säugethiere der jüngeren
Tertiär-Zeit, vor Allen bei den Menschen-Affen
(Anthropoiden). I. Die Unterschiede, welche im Gehirnbau und
Seelenleben des Menschen und der Menschen-Affen existiren, sind
geringer als die entsprechenden Unterschiede zwischen diesen letzteren
und den niederen Primaten (den ältesten Affen und Halbaffen).
IV. Demnach muß die historische stufenweise Entwickelung der
Menschenseele aus einer langen Kette von höheren und niederen
Mammalien-Seelen - unter Anwendung der Descendenz-Theorie - als
eine fundamentale, durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie
wissenschaftlich bewiesene Thatsache gelten.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
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13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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