Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Sechzehntes Kapitel
Wissen und Glauben.
Monistische Studien über Erkenntniß und Wahrheit.
Sinnesthätigkeit und Vernunftthätigkeit. Glauben und
Aberglauben. Erfahrung und Offenbarung.
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Inhalt: Erkenntniß der Wahrheit und ihre Quellen:
Sinnesthätigkeit und Associon der Verstellungen. Sinnesorgane
(Aestheten) und Denkorgane (Phroneten). Sinnesorgane und ihre
specifische Energie. Entwickelung derselben. Philosophie der
Sinnlichkeit. Unschätzbarer Werth der Sinne. Grenzen der
sinnlichen Erkentniß. Hypothese und Glaube. Theorie und Glaube.
Principieller Gegensatz zwischen wissenschaftlichem (natürlichem)
und religiösem (übernatürlichem) Glauben.
Aberglaube der Naturvölker und Kulturvölker. Glaubens-Bekenntnisse.
Konfessionslose Schule. Der Glaube unserer Väter.
Spiritismus. Offenbarung.
Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntniß der
Wahrheit. Unser echtes und werthvolles Wissen ist realer Natur
und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existirenden Dingen
entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das innerste Wesen dieser
realen Welt - "das Ding an sich" - zu erkennen; aber unbefangene und
kritische Beobachtung und Vergleichung überzeugt uns, daß
bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die
Eindrücke der Außenwelt auf diese bei allen
vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler
Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche
Vorstellungen gebildet werden; diese nennen wir wahr und sind
dabei überzeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der
Dinge entspricht. Wir wissen, daß diese Thatsachen nicht
eingebildet, sondern wirklich sind.
Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit
beruht auf zwei verschiedenen aber innig zusammenhängenden
Gruppen von physiologischen Funktionen des Menschen; erstens auf der
Empfindung der Objekte mittels der Sinnesthätigkeit, und
zweitens auf der Verbindung der so gewonnenen Eindrücke durch
Associon zur Vorstellung im Subjekt. Die Werkzeuge der
Empfindung sind die Sinnesorgane (Sensillen); die
Werkzeuge, welche die Vorstellungen bilden und verknüpfen, sind
die Denkorgane (Phroneten). Diese letzteren sind Theile des
centralen, die ersteren hingegen Theile des peripheren
Nervensystems, jenes wichtigsten und höchstentwickelten
Organ-Systems der höheren Thiere, welches einzig und allein
deren gesammte Seelenthätigkeit vermittelt.
Sinnesorgane (Sensilla). Die Sinnesthätigkeit des
Menschen, welche der erste Ausgangspunkt aller Erkenntniß
ist, hat sich langsam und allmählich aus derjenigen der
nächstverwandten Säugethiere, der Primaten, entwickelt.
Die Organe derselben sind in dieser höchstentwickelten
Thierklasse überall von wesentlich gleichem Bau, und ihre
Funktion erfolgt überall nach denselben physikalischen und
chemischen Gesetzen. Sie haben sich allenthalben in derselben Weise
historisch entwickelt. Wie bei allen anderen Thieren, so sind auch bei
den Mammalien alle Sensillen ursprünglich Theile der Hautdecke,
und die empfindlichen Ureltern aller der verschiedenen Sinnesorgane,
welche durch Anpassung an verschiedene Reize (Licht, Wärme,
Schall, Chemopathos) ihre spezifische Energie erlangt haben. Sowohl die
Stäbchenzellen der Retina in unserem Auge und die
Hörzellen in der Schnecke unseres Ohres, als auch die Riechzellen
in der Nase und die Schmeckzellen auf unserer Zunge stammen
ursprünglich von jenen einfachen indifferenten Zellen der
Oberhaut ab, welche die ganze Oberfläche unseres Körpers
überziehen. Diese bedeutungsvolle Thatsache wird durch die
unmittelbare Beobachtung am Embryo des Menschen ebenso wie aller
anderen Thiere direkt bewiesen. Aus dieser ontogenetischen Thatsache
folgt aber nach dem biogenetischen Grundgesetze mit Sicherheit der
folgenschwere phylogenetische Schluß, daß auch in der langen
Stammesgeschichte unserer Vorfahren die höheren Sinnesorgane
mit ihrem speciellen Energien ursprünglich aus der Oberhaut
niederer Thiere entstanden sind, aus einer einfachen Zellenschicht, die
noch kene solchen gesonderten Sensillen enthielt.
Specifische Energie der Sensillen. Von größter
Bedeutung für die menschliche Erkenntniß ist die Thatsache,
daß verschiedene Nerven unseres Körpers im Stande sind,
ganz verschiedene Qualitäten der Außenwelt und nur diese
wahrzunehmen. Der Sehnerv des Auges vermittelt nur Lichtempfindung,
der Hörnerv des Ohres nur Schallempfindung, der Riechnerv der
Nase nur Geruchsempfindungen u. s. w. Gleichviel welche Reize das
einzelne Sinneswerkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen
behält dieselbe Qualität. Aus dieser specifischen
Energie der Sinnesnerven, welche von dem großen Physiologen
Johannes Müller zuerst in ihrer weitreichenden Bedeutung
gewürdigt wurde, sind sehr irrthümliche Schlüsse
gezogen worden, besonders zu Gunsten einer dualistischen und
apriorischen Erkenntniß-Theorie. Man behauptete, daß das
Gehirn oder die Seele nur einen gewissen Zustand des erregten Nerven
wahrnehme, und daß daraus Nichts auf die Existenz und
Beschaffenheit der erregenden Außenwelt geschlossen werden
könne. Die skeptische Philosophie zog daraus den Schluß,
daß diese letztere selbst zweifelhaft sei, und der extreme
Idealismus bezweifelte nicht nur diese Realität, sondern er negirte
sie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unserer Vorstellung
exitire.
Diesen Irrthümern gegenüber müssen wir daran
erinnern, daß die "specifische Energie" ursprünglich nicht
eine anerschaffene besondere Qualität einzelner Nerven, sondern
durch Anpassung an die besondere Thätigkeit der
Oberhautzellen entstanden ist, in welchen sie enden. Nach den
großen Gesetzen der Arbeitstheilung nahmen die
ursprünglich indifferenten "Hautsinneszellen" verschiedene
Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der Lichtstrahlen, die
anderen den Eindruck der Schallwellen, eine dritte Gruppe die
chemische Einwirkung riechender Substanzen u. s. w. aufnahmen. Im
Laufe langer Zeiträume bewirkten diese äußeren
Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der
physiologischen und weiterhin auch der morphologischen Eigenschaften
dieser Oberhautstellen, und damit zugleich veränderten sich die
sensiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen
Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbesserte Schritt
für Schritt die besonderen Umbildungen derselben, welche sich als
nützlich erwiesen, und schuf so zuletzt im Laufe vieler
Jahrmillionen jene bewunderungswürdigen Instumente, welche
als Auge und Ohr unsere theuersten Güter
darstellen; ihre Einrichtung ist so wunderbar zweckmäßig,
daß sie uns zu der irrthümlichen Annahme einer
"Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan" führen
könnten. Die besondere Eigenthümlichkeit jedes
Sinnesorganes und seines specifischen Nerven hat sich aber erst durch
Gewohnheit und Uebung - d. h. durch Anpassung -
allmählich entwickelt und ist dann durch Vererbung von
Generation zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau
hat diese Auffassung ausführlich begründet in seinem
vortrefflichen Werke über "Empfinden und Denken; eine
physiologische Untersuchung über die Natur des menschlichen
Verstandes" (1896). Dort ist sowohl die richtige Deutung des
Müller'schen Gesetzes von den specifischen Sinnes-Energien
gegeben, als auch scharfsinnige Erörterungen über ihre
Beziehungen zum Gehirn und besonders im letzten Kapitel eine
ausgezeichnete, auf den Schultern von Ludwig Feuerbach
stehende "Philosophie der Sinnlichkeit"; ich schließe mich
diesen überzeugenden Ausführungen durchaus an.
Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritische Vergleichung
der Sinnesthätigkeit beim Menschen und bei den übrigen
Wirbelthieren ergiebt eine Anzahl überaus wichtiger Thatsachen,
welche wir erst den eingehenden Forschungen des 19. Jahrhunderts und
besonders seiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz besonders gilt
dies von den beiden höchstentwickelten, den "ästhetischen
Sinneswerkzeugen", Auge und Ohr. Dieselben zeigen im Stamme der
Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau aus bei den
übrigen Thieren und entwickeln sich auch im Embryo derselben
auf eigenthümliche Weise. Diese typische Ontogenese und Struktur
der Sensillen bei sämmtlichen Wirbelthieren erklärt sich
durch Vererbung von einer gemeinsamen Stammform. Innerhalb
der Stammes aber zeigt sich eine große Mannigfaltigkeit der
Ausbildung im Einzelnen, und diese ist bedingt durch die
Anpassung an die Lebensweise der einzelnen Arten, durch den
gesteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile.
Der Mensch erscheint nun in Bezug auf die Ausbildung seiner Sinne
keineswegs als das vollkommenste und höchstentwickelte
Wirbelthier. Das Auge der Vögel ist viel schärfer und
unterscheidet kleine Gegenstände auf weite Entfernung viel
deutlicher als das menschliche Auge. Das Gehör vieler
Säugethiere, besonders der in Wüsten lebenden Raubthiere,
Hufthiere, Nagethiere u. s. w., ist viel empfindlicher als das menschliche
und nimmt leise Geräusche auf viel weitere Entfernungen wahr;
darauf weist schon ihre große und sehr bewegliche Ohrmuschel
hin. Die Singvögel offenbaren selbst in Bezug auf musikalische
Begabung eine höhere Entwickelungsstufe als viele Menschen. Der
Geruchssinn ist bei den meisten Säugethieren, namentlich
Raubthieren und Hufthieren, viel mehr ausgebildet als beim Menschen;
wenn der Hund seine eigene feine Spürnase mit derjenigen des
Menschen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf
letztere herabsehen. Auch in Bezug auf die niederen Sinne, den
Geschmackssinn, den Geschlechtssinn, den Tastsinn und den
Temperatursinn, behauptet der Mensch keineswegs in jeder Beziehung
die höchste Entwickelungsstufe.
Wir selbst können natürlich nur über diejenigen
Sinnesempfindungen urtheilen, die wir selbst besitzen. Nun weist uns
aber die Anatomie im Körper vieler Thiere noch andere als unsere
bekannten Sinnesorgane nach. So besitzen die Fische und andere
niedere, im Wasser lebende Wirbelthiere eigenthümliche Sensillen
in der Haut, welche mit besonderen Sinnesnerven in Verbindung stehen.
In den Seiten des Fischkörpers verläuft rechts und links ein
langer Kanal, der vorn am Kopfe in mehrere verzweigte Kanäle
übergeht. In diesen "Schleimkanälen" liegen Nerven mit
zahlreichen Aesten, deren Enden mit eigenthümlichen
Nervenbündeln verbunden sind. Wahrscheinlich dient dieses
ausgedehnte "Hautsinnesorgan" zur Wahrnehmung von Unterschieden
im Wasserdruck oder in anderen Eigenschaften des Wassers. Einige
Gruppen sind noch durch den Besitz anderer eigenthümlicher
Sensillen ausgezeichnet, deren Bedeutung uns unbekannt ist.
Schon aus diesen Thatsachen ergiebt sich, daß unsere menschliche
Sinnesthätigkeit beschränkt ist, und zwar sowohl in
quantitativer als in qualitativer Hinsicht. Wir können also mit
unseren Sinnen, vor Allem dem Auge und dem Tastsinn, immer nur
einen Theil der Eigenschaften erkennen, welche die Objekte der
Außenwelt besitzen. Aber auch diese partielle Wahrnehmung ist
unvollständig, insofern unsere Sinneswerkzeuge unvollkommen
sind und die Sinnesnerven als Dolmetscher dem Gehirn nur die
Uebersetzung der empfangenen Eindrücke mittheilen.
Diese anerkannte Unvollkommenheit unserer Sinnesthätigkeit darf
uns aber nicht hindern, in deren Werkzeugen, und vor Allem im Auge,
die edelsten Organe zu erblicken; im Vereine mit den Denkorganen des
Gehirns sind sie das werthvollste Geschenk der Natur für den
Menschen. In voller Wahrheit sagt Albrecht Rau (a. a. O.): "Alle
Wissenschaft ist in letzter Linie Sinneserkenntniß"; die Data der
Sinne werden darin nicht negirt, sondern interpretirt. Die Sinne sind
unsere ersten und besten Freunde; lange bevor sich der Verstand
entwickelt, sagen die Sinne dem Menschen, was er thun und lassen soll.
Wer die Sinnlichkeit überhaupt verneint, um ihren
Gefahren zu entgehen, der handelt ebenso unbesonnen und
thöricht als der, welcher seine Augen ausreißt, weil sie
einmal auch schändliche Dinge sehen könnten; oder der,
welcher seine Hand abhaut, weil er fürchtet, sie könnte
einmal auch nach fremdem Gute langen." Mit vollem Rechte nennt
deshalb Feuerbach alle Philosophien, alle Religionen, alle
Institute, die dem Principe der Sinnlichkeit wiedersprechen, nicht
nur irrthümliche, sondern sogar grundverderbliche. Ohne
Sinne keine Erkenntniß! "Nihil est in entellectu, quod non fuerit
in sensu!" (Locke.) Welches hohe Verdienst sich neuerdings
der Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige
Würdigung der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich
schon vor 25 Jahren in meinem Vortrage "Ueber Ursprung und
Entwickelung der Sinnesorgane" zu zeigen versucht (Bonn 1878).
Hypothese und Glaube. Der Erkenntnißtrieb des
hochentwickelten Kulturmenschen begnügt sich nicht mit jener
lückenhaften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch
seine unvollkommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht sich
vielmehr, die sinnlichen Eindrücke, welche er durch dieselben
gewonnen hat, in Erkenntniß-Werthe umzusetzen; er verwandelt
sie in den Sinnesherden der Großhirnrinde in specifische
Sinnes-Empfindungen und verbindet diese durch Associon in deren
Denkherden zu Vorstellungen; durch weitere Verkettung der
Vorstellungs-Gruppen gelangt er endlich zu sammenhängendem
Wissen. Aber dieses Wissen bleibt immer lückenhaft und
unbefriedigend, wenn nicht die Phantasie die ungenügende
Kombinations-Kraft des erkennenden Verstandes ergänzt und
durch Associon von Gedächtnißbildern entfernt liegende
Erkenntnisse zu einem zusammenhängenden Ganzen
verknüpft. Dabei entstehen neue allgemeine Vorstellungs-Gebilde,
welche erste die wahrgenommenen Thatsachen erklären, und das
"Kausalitätsbedürfniß der Vernunft befriedigen."
Die Vorstellungen, welche die Lücken des Wissens ausfüllen
oder an dessen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als
"Glauben" bezeichnen. So geschieht es fortwährend im
alltäglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatsache nicht sicher
wissen, so sagen wir: Ich glaube sie. In diesem Sinne sind wir auch in
der Wissenschaft selbst zum Glauben gezwungen; wir vermuthen oder
nehmen an, daß ein bestimmtes Verhältniß zwischen
zwei Erscheinungen besteht, obwohl wir dasselbe nicht sicher kennen.
Handelt es sich dabei um die Erkenntniß von Ursachen, so
bilden wir uns eine Hypothese. Indessen dürfen in der
Wissenschaft nur solche Hypothesen zugelassen werden, die innerhalb
des menschlichen Erkenntniß-Vermögens liegen, und die
nicht bekannten Thatsachen widersprechen. Soche Hypothesen sind z. B.
in der Physik die Lehre von Vibrationen des Aethers, in der Chemie die
Annahme der Atome und deren Wahlverwandtschaft, in der Biologie die
Lehre von der Molekular-Struktur des lebendigen Plasmas u. s. w.
Theorie und Glaube. Die Erklärung einer
größeren Reihe von zusammenhängenden
Erscheinungen durch Annahme einer gemeinsamen Ursache nennen wir
Theorie. Auch bei der Theorie, wie bei der Hypothese, ist der
Glaube (in wissenschaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch
hier ergänzt die dichtende Phantasie die Lücke, welche der
Verstand in der Erkenntniß des Zusammenhangs der Dinge offen
läßt. Die Theorie kann daher immer nur als eine
Annäherung an die Wahrheit betrachtet werden; es muß
zugestanden werden, daß sie später durch eine andere,
besser begründete Theorie verdrängt werden kann. Trotz
dieser eingestandenen Unsicherheit bleibt die Theorie für jede
wahre Wissenschaft unentbehrlich; denn sie erklärt erst die
Thatsachen durch Annahme von Ursachen. Wer auf die Theorie ganz
verzichten und reine Wissenschaft bloß aus "sicheren Thatsachen"
aufbauen will (wie es oft von beschränkten Köpfen in der
modernen sogenannten "exakten Naturwissenschaft" geschieht), der
verzichtet damit auf die Erkenntniß der Ursachen überhaupt
und somit auf die Befriedigung des Kausalitäts-Bedürfnisses
der Vernunft.
Die Gravitations-Theorie in der Astronomie (Newton), die
kosmologische Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und
Laplace), das Energie-Princip in der Physik (Mayer und
Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die
Vibrations-Theorie in der Optik, (Huyghens), die Zellen-Theorie in
der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die
Descendenz-Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin)
sind gewaltige Theorien ersten Ranges; sie erklären eine ganze
Welt von großen Natur-Erscheinungen durch Annahme einer
gemeinsamen Ursache für alle einzelnen Thatsachen ihres
Gebietes und durch den Nachweis, daß alle Erscheinungen in
demselben zusammenhängen und durch feste, von dieser einen
Ursache ausgehende Gesetze geregelt werden. Dabei kann aber diese
Ursache selbst ihrem Wesen nach unbekannt oder nur eine
"provisorische Hypothese" sein. Die "Schwerkraft" in der
Gravitations-Theorie und in der Kosmogenie, die "Energie" selbst
in ihrem Verhältniß zur Materie, der "Aether" in der
Optik und Elektrik, das "Atom" in der Chemie, das lebendige
"Plasma" in der Zellenlehre, die "Vererbung" in der
Abstammungslehre - diese und ähnliche Grundbegriffe in anderen
großen Theorien können von der skeptischen Philosophie als
"bloße Hypothesen", als Erzeugnisse des wissenschaftlichen
Glaubens betrachtet werden, aber sie bleiben uns als solche
unentbehrliche, so lange, bis sie durch eine bessere Hypothese
ersetzt werden.
Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als diese Formen
des wissenschaftlichen Glaubens sind diejenigen Vorstellungen, welche
ein den verschiedenen Religionen zur Erklärung der
Erscheinungen benutzt und schlechtweg als Glaube im engeren
Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber diese beiden Glaubens-Formen, der
"natürliche Glaube" der Wissenschaft und der
"übernatürliche Glaube" der Religion, nicht selten
verwechselt werden und so Verwirrung entsteht, ist es
zweckmäßig, ja nothwendig ihren principiellen
Gegensatz zu betonen. Der "religiöse" Glaube ist stets
Wunderglaube und steht als solcher mit dem natürlichen
Glauben der Vernunft in unversöhnlichen Widerspruch. Im
Gegensatz zu letzterem behauptet er übernatürliche
Vorgänge und kann somit als "Ueberglaube" oder
"Oberglaube" bezeichnet werden, die ursprüngliche Form
des Wortes Aberglaube. Der wesentliche Unterschied dieses
Aberglaubens von dem "vernünftigen Glauben" besteht eben
darin, daß er übernatürliche Kräfte und
Erscheinungen annimmt, welche die Wissenschaft nicht kennt und nicht
zuläßt, welche durch irrthümliche Wahrnehmungen
und falsche Phantasie-Dichtungen erzeugt sind; der Aberglaube
widerspricht mithin den klar erkannten Naturgesetzen und ist als
solcher unvernünftig.
Aberglaube der Naturvölker. Durch die großen
Fortschritte der Ethnologie im 19. Jahrhundert ist uns eine erstaunliche
Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugnissen des
Aberglaubens bekannt geworden, wie sie noch heute unter den rohen
Naturvölkern existiren. Vergleicht man dieselben unter einander
und mit den entsprechenden mythologischen Vorstellungen
früherer Zeiten, so ergiebt sich eine vielfache Analogie, oft ein
gemeinsamer Ursprung und zuletzt eine einfache Urquelle für alle.
Diese finden wir in dem natürlichen Kausalitäts-Bedürfnisse
der Vernunft, in dem Suchen nach
Erklärung unbekannter Erscheinungen durch Auffinden ihrer
Ursachen. Besonders gilt das von solchen Bewegungs-Erscheinungen, die
Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erdbeben,
Mondfinsterniß u. s. w. Das Bedürfniß nach kausaler
Erklärung solcher Naturerscheinungen besteht schon bei den
Naturvölkern der niedersten Stufe und ist bereits von ihren
Primaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es besteht ebenso
bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond anbellt
oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er sich bewegen
sieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, so äußert er dabei
nicht nur Furcht, sondern auch den dunklen Drang nach Erkenntniß
der Ursache dieser unbekannten Erscheinung. Die rohen Religions-Anfänge der
primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln
theilweise in solchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen,
theilweise im Ahnen-Kultus, in verschiedenen Gemüths-Bedürfnissen und
in traditionell gewordenen Gewohnheiten.
Aberglaube der Kulturvölker. Die religiösen
Glaubens-Vorstellungen der modernen Kulturvölker, die ihnen als
höchster geistiger Besitz gelten, pflegen von ihnen hoch über
den "rohen Aberglauben" der Naturvölker gestellt zu werden; man
preist den großen Fortschritt, welchen die aufklärende Kultur
durch Beseitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das ist ein
großer Irrthum! Bei unbefangener kritischer Prüfung und
Vergleichung zeigt sich, daß beide nur durch die besondere "Gestalt
des Glaubens" und durch die äußere Hülle der
Konfession von einander verschieden sind. Im klaren Lichte der
Vernunft erscheint der destillirte Wunderglaube der
freisinnigsten Kirchen-Religionen - insofern er klar erkannten und
festen Naturgesetzen widerspricht, genau so als unvernünftiger
Aberglaube, wie der rohe Gespensterglaube der primitiven Fetisch-Religionen, auf
welchen jene stolz herabsehen.
Werfen wir von diesem unbefangenen Standpunkte einen kritischen
Blick auf die gegenwärtig noch herrschenden Glaubens-Vorstellungen der
heutigen Kulturvölker, so finden wir sie
allenthalben von traditionellen Aberglauben durchdrungen. Der
christliche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an
die unbefleckte Empfängniß Mariä, an die
Erlösung, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi u. s. w. ist
ebenso reine Dichtung und kann ebenso wenig mit der
vernünftigen Natur-Erkenntniß in Einklang gebracht werden,
als die verschiedenen Dogmen der mohammedanischen und mosaischen,
der buddhistischen und brahmanischen Religion. Jede von diesen
Religionen ist für den wahrhaft "Gläubigen" eine
zweifellose Wahrheit, und jede von ihnen betrachtet jede andere
Glaubenslehre als Ketzerei und verderblichen Irrthum. Je mehr eine
bestimmte Konfession sich für die "allein selig machende"
hält - für die "katholische" - und je inniger diese
Ueberzeugung als heiligste Herzenssache vertheidigt wird, desto eifriger
muß sie naturgemäß alle anderen Konfessionen
bekämpfen, und desto fanatischer gestalten sich die
fürchterlichen Glaubenskriege, welche die traurigsten
Blätter im Buche der Kulturgeschichte bilden. Und doch
überzeugt uns die unparteiische "Kritik der reinen
Vernunft", daß alle diese verschiedenen Glaubensformen in
gleichem Maße unwahr und unvernünftig sind, Produkte der
dichtenden Phantasie und der unkritischen Tradition. Die
vernünftige Wissenschaft muß sie sammt und sonders als
Erzeugnisse des Aberglaubens verwerfen.
Glaubens-Bekenntniß (Konfession). Der
unermeßliche Schaden, welchen der unvernünftige
Aberglaube seit Jahrtausenden in der gläubigen Menschheit
angerichtet hat, offenbart sich wohl nirgends auffälliger als in dem
unaufhörlichen "Kampfe der Glaubens-Bekenntnisse". Unter allen
Kriegen, welche die Völker mit Feuer und Schwert gegen einander
geführt haben, sind die Religionskriege die blutigsten gewesen;
unter allen Formen der Zwietracht, welche das Glück der Familien
und der einzelnen Personen zerstört haben, sind die
religiösen, dem Glaubens-Unterschiede entsprungenen noch heute
die gehässigsten. Man denke nur an die vielen Millionen
Menschen, welche in den Christen-Bekehrungen und -Verfolgungen, in
den Glaubenskämpfen des Islam und der Reformation, durch die
Inquisition und die Hexen-Prozesse ihr Leben verloren haben. Oder man
denke an die noch größere Zahl der Unglücklichen,
welche wegen Glaubens-Verschiedenheiten in Familien-Zwist gerathen,
ihr Ansehen bei den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung
im Staate verloren oder aus dem Vaterlande haben auswandern
müssen. Die verderblichste Wirkung übt das officielle
Glaubens-Bekenntniß dann, wenn es mit den politischen Zwcken
des Kultur-Staates verknüpft und als "konfessioneller Religions-Unterricht"
in den Schulen zwangsweise gelehrt wird. Die Vernunft der
Kinder wird dadurch schon frühzeitig von der Erkenntniß der
Wahrheit abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder
Menschenfreund sollte daher die konfessionslose Schule, als eine
der werthvollsten Institutionen des modernen Vernunft-Staates, mit
allen Mitteln zu fördern suchen.
Der Glaube unserer Väter. Der hohe Werth, welcher
trotzdem noch heute in den weitesten Kreisen dem konfessionellen
Religions-Unterricht beigelegt wird, ist nicht allein durch den
Konfessions-Zwang des rückständigen Kultur-Staates und
dessen Abhängigkeit von klerikaler Herrschaft bedingt, sondern
auch durch das Gewicht von alten Traditionen und von
"Gemüths-Bedürfnissen" verschiedener Art. Unter diesen ist besonders
wirkungsvoll die andächtige Verehrung, welche in weitesten
Kreisen der konfessionellen Tradition gezollt wird, dem "heiligen
Glauben unserer Väter". In Tausenden von Erzählungen und
Gedichten wird das Festhalten an demselben als ein geistiger Schatz und
als eine heilige Pflicht gepriesen. Und doch genügt unbefangenes
Nachdenken über die Geschichte des Glaubens, um uns von
der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vorstellung
zu überzeugen. Der herrschende evangelische Kirchenglaube in der
zweiten Hälfte des aufgeklärten 19. Jahrhunderts ist
wesentlich verschieden von demjenigen in der ersten Hälfte
desselben, und dieser wieder von demjenigen des 18. Jahrhunderts. Der
letztere weicht sehr ab von dem "Glauben unserer Väter" im 17.
und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation, welche die
geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus befreite, wird
natürlich von dieser als ärgste Ketzerei verfolgt; aber auch
der Glaube des Papismus selbst hatte sich im Laufe eines Jahrtausends
völlig verändert. Und wie verschieden ist der Glaube der
getauften Christen von demjenigen ihrer heidnischen Väter! Jeder
selbstständig denkende Mensch bildet sich eben seinen eigenen,
mehr oder weniger "persönlichen Glauben", und immer ist dieser
verschieden von demjenigen seiner Väter; denn er ist
abhängig von dem gesammten Bildungs-Zustande seiner Zeit. Je
weiter wir in der Kultur-Geschichte zurückgehen, desto mehr
erscheint uns der gepriesene "Glaube unserer Väter" als
unhaltbarer Aberglaube, dessen Formen sich beständig
umbilden.
Spiritismus. Eine der merkwürdigsten Formen des
Aberglaubens ist diejenige, welche noch heutzutage in unserer
modernen Kulturwelt eine erstaunliche Rolle spielt, der Spiritismus und
Okkultismus, der moderne Geisterglaube. Es ist eine ebenso
befremdende wie betrübende Thatsache, daß noch heute
Millionen gebildeter Kulturmenschen von diesem finsteren Aberglauben
völlig beherrscht sind; ja sogar einzelne berühmte
Naturforscher haben sich von demselben nicht losmachen können.
Zahlreiche spiritistische Zeitschriften verbreiten diesen Gespenster-Glauben in
weitesten Kreisen und unsere "feinsten Gesellschafts-Kreise"
schämen sich nicht, "Geister" erscheinen zu lassen, welche klopfen,
schreiben, "Mittheilungen aus dem Jenseits" machen u. s. w. Man beruft
sich in den Kreisen der Spiritisten oft darauf, daß selbst
angesehene Naturforscher diesem Aberglauben huldigen. In Deutschland
werden dafür als Beispiele u. A. Zöllner und
Fechner in Leipzig angeführt, in England Wallace
und Crookes in London. Die bedauerliche Thatsache, daß
selbst so hervorragende Physiker und Biologen sich dadurch haben irre
führen lassen, erklärt sich theils aus ihrem Uebermaß
an Phantasie und Kritikmangel, theils aus dem mächtigen
Einfluß starrer Dogmen, welche religiöse Erziehung dem
kindlichen Gehirn in frühester Jugend schon einprägt.
Uebrigens ist gerade bei den berühmten spiritistischen
Vorstellungen in Leipzig, in welchen die Physiker Zöllner,
Fechner und Wilhelm Weber durch den schlauen
Taschenspieler Slade irre geführt wurden, der Schwindel
des Letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; Slade
selbst wurde als gemeiner Betrüger entlarvt und bestraft. Auch in
allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen "Wunder des
Spiritismus" gründlich untersucht werden konnten, hat sich als
Ursache derselben eine gröbere oder feinere Täuschung
herausgestellt, und die sogenannten "Medien" (meist weiblichen
Geschlechts) sind theils als schlaue Schwindler entlarvt, theils als
nervöse Personen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt
worden. Ihre angebliche Telepathie (oder "Fernwirkung des
Gedankens ohne materielle Vermittelung") existirt ebenso wenig als die
"Stimmen der Geister", die "Seufzer der Gespenster" u. s. w. Die lebhaften
Schilderungen, welche Carl du Prel und andere Spiritisten von
solchen "Geister-Erscheinungen" geben, beruhen auf Thätigkeit der
freien Phantasie, verbunden mit Mangel an Kritik und an
physiologischen Kenntnissen.
Offenbarung (Revelation). Die meisten Religionen haben trotz
ihrer mannigfaltigen Verschiedenheit einen gemeinsamen Grundzug, der
zugleich eine ihrer mächtigsten Stützen in weiten Kreisen
bildet; sie behaupten, die Räthsel des Daseins, deren Lösung
auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich ist,
auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu
können; zugleich leiten sie daraus die Geltung der Dogmen oder
Glaubenssätze ab, welche als "göttliche Gesetze" die
Sittenlehre ordnen und die Lebensführung bestimmen sollen.
Derartige göttliche Inspirationen bilden die Grundlage zahlreicher
Mythen und Legenden, deren anthropistischer Ursprung auf der Hand
liegt. Zwar erscheint der Gott, der "sich offenbart", oft nicht direkt in
menschlicher Gestalt, sondern im Donner und Blitz, im Sturm und
Erdbeben, im feurigen Busch oder der drohenden Wolke. Aber die
Offenbarung selbst, wird in allen Fällen anthropistisch gedacht, als
Mittheilung von Vorstellungen oder Befehlen, welche genau so
formuliert und ausgesprochen werden, wie es normaler Weise nur durch
die Großhirnrinde und durch den Kehlkkopf des Menschen
geschieht. In den indischen und egyptischen Religionen, in der
hellenischen und römischen Mythologie, im Talmud wie im Koran,
im Alten wie im Neuen Testament - denken, sprechen und handeln die
Götter ganz wie die Menschen, und die Offenbarungen, in denen
sie uns die Geheimnisse des Daseins enthüllen, die dunkeln
Welträthsel lösen wollen, sind Dichtungen der
menschlichen Phantasie. Die Wahrheit, welche der Gläubige
darin findet, ist menschliche Erfindung, und der "kindliche Glaube" an
diese unvernünftigen Offenbarungen ist Aberglaube.
Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle vernünftiger
Erkenntniß, ist nur in der Natur zu finden. Der reiche Schatz
wahren Wissens, der den werthvollsten Theil der menschlichen Kultur
darstellt, ist einzig und allein den Erfahrungen entsprungen, welche der
forschende Verstand durch Natur-Erkenntniß gewonnen hat,
und den Vernunft-Schlüssen, welche er durch richtige
Associon dieser empirischen Vorstellungen gebildet hat. Jeder
vernünftige Mensch mit normalem Gehirn und normalen Sinnen
schöpft bei unbefangener Betrachtung aus der Natur diese wahre
Offenbarung und befreit sich damit von dem Aberglauben, welchen ihm
die Offenbarungen der Religion aufgebürdet haben.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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