Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Sechstes Kapitel
Das Wesen der Seele.
Monistische Studien über den Begriff der Psyche. Aufgaben und
Methoden der wissenschaflichen Psychologie. Psychologische
Metamorphosen.
------
Inhalt: Fundamentale Bedeutung der Psychologie, Begriff und
Methoden derselben. Gegensätze der Ansichten darüber.
Dualistische und monistische Psychologie. Verhältniß zum
Substanz-Gesetz. Begriffs-Verwirrung. Psychologische Metamorphosen:
Kant, Virchow, Du Bois-Reymond. Erkenntnißwege der
Seelenkunde. Introspektive Methode (Selbstbeobachtung). Exakte
Methode (Psychophysik). Vergleichende Methode (Thier-Psychologie).
Psychologischer Principien-Wechsel, Wundt. Völker-Psychologie
und Ethnographie, Bastian. Ontogenetische Psychologie, Preyer.
Phylogenetische Psychologie, Darwin, Romanes.
Die Erscheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des
Seelenlebens oder der psychischen Thätigkeit
zusammenfaßt, sind unter allen uns bekannten Phänomenen
einerseits die wichtigsten und interessantesten, andererseits die
verwickeltesten und räthselhaftesten. Da die Natur-Erkenntniß selbst,
die Aufgabe unserer vorliegenden
philosophischen Studien, ein Theil des Seelenlebens ist, und da mithin
auch die Anthropologie, ebenso wie die Kosmologie, eine richtige
Erkenntniß der "Psyche" zur Voraussetzung hat, so kann
man die Psychologie, die wirklich wissenschaftliche Seelenlehre,
auch als das Fundament und als die Voraussetzung aller anderen
Wissenschaften ansehen; von der anderen Seite betrachtet, ist sie
wieder ein Theil der Philosophie oder der Physiologie oder der
Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen
Begründung liegt nun aber darin, daß die Psychologie
wiederum die genaue Kenntniß des menschlichen Organismus
voraussetzt und vor Allem des Gehirns, als des wichtigsten
Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der
sogenannten "Psychologen" besitzt jedoch von diesen anatomischen
Grundlagen der Psyche nur sehr unvollständige oder gar keine
Kenntniß, und so erklärt sich die bedauerliche Thatsache,
daß in keiner anderen Wissenschaft so widersprechende und
unhaltbare Vorstellungen über ihren eigenen Begriff und ihre
wesentliche Aufgabe herrschen, wie in der Psychologie. Diese Konfusion
ist in den letzten drei Decennien um so fühlbarer hervorgetreten,
je mehr die großartigen Fortschritte der Anatomie und Physiologie
unsere Kenntniß vom Bau und von den Funktionen des wichtigsten
Seelen-Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforschung. Nach meiner Ueberzeugung ist
das, was man die "Seele" nennt, in Wahrheit eine
Naturerscheinung; ich betrachte daher die Psychologie als einen
Zweig der Naturwissenschaft - und zwar der Physiologie.
Demzufolge muß ich von vornherein betonen, daß wir
für dieselbe keine anderen Forschungswege zulassen können
als in allen übrigen Naturwissenschaften; d. h. in erster Linie die
Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie die
Entwickelungsgeschichte und in dritter Linie die metaphysische
Spekulation, welche durch induktive und deduktive
Schlüsse möglichst dem unbekannten "Wesen" der
Erscheinung sich zu nähern sucht. Mit Bezug auf die principielle
Beurtheilung desselben aber müssen wir zunächst gerade
hier den Gegensatz der dualistischen und der monistischen Ansicht
scharf in's Auge fassen.
Dualistische Psychologie. Die allgemein herrschende Aufassung
des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet die Seele und
Leib als zwei verschiedene "Wesen". Diese beiden Wesen
können unabhängig von einander existiren und sind nicht
nothwendig an einander gebunden. Der organische Leib ist ein
sterbliches materielles Wesen, chemisch zusammengesetzt aus
lebendigem Plasma und den von diesem erzeugten Verbindungen
(Plasma-Produkten). Die Seele hingegen ist ein unsterbliches,
immaterielles Wesen, ein spirituelles Agens, dessen
räthselhafte Thätigkeit uns völlig unbekannt ist. Diese
triviale Auffassung ist als solche rein spiritualistisch und ihr
principielles Gegenteil im gewissen Sinne materialistisch. Sie ist zugleich
transcendent und supranaturalistisch; denn sie behauptet die
Existenz von Kräften, welche ohne materielle Basis existiren und
wirksam sind; sie fußt auf der Annahme, daß außer und
über der Natur noch eine "geistige Welt" exitirt, eine immaterielle
Welt, von der wir durch Erfahrung nichts wissen und unserer Natur
nach nichts wissen können.
Diese hypothetische "Geisteswelt", die von der materiellen
Körperwelt ganz unabhängig sein soll, und auf deren
Annahme das ganze künstliche Gebäude der dualistischen
Weltanschauung ruht, ist lediglich ein Produkt der dichtenden
Phantasie; und dasselbe gilt von dem mystischen, eng mit ihr
verknüpften Glauben an die "Unsterblichkeit der Seele", dessen
wissenschaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch besonders darthun
müssen (im 11. Kapitel). Wenn die in diesem Sagenkreise
herrschenden Glaubens-Vorstellungen wirklich begründet
wären, so müßten die betreffenden Erscheinungen
nicht dem Substanz-Gesetze unterworfen sein; diese
einzige Ausnahme von dem höchsten kosmologischen
Grundgesetze müßte aber erst sehr spät im Laufe der
organischen Erdgeschichte eingetreten sein, da sie nur die "Seele" des
Menschen und der höheren Thiere betrifft. Auch das Dogma des
"freien Willens", ein anderes wesentliches Stück der dualistischen
Psychologie, ist mit dem unversalen Substanz-Gesetze ganz
unvereinbar.
Monistische Psychologie. Die natürliche Auffassung des
Seelenlebens, welche wir vertreten, erblickt dagegen in demselben eine
Summe von Lebens-Erscheinungen, welche gleich allen anderen an ein
bestimmtes materielles Substrat gebunden sind. Wir wollen diese
materielle Basis aller psychischen Thätigkeit, ohne welche dieselbe
nicht denkbar ist, vorläufig als Psychoplasma bezeichnen,
und zwar deshalb, weil sie durch die chemische Analyse überall
als ein Körper nachgewiesen ist, welcher zur Gruppe der
Plasma-Körper gehört, d. h. jener eiweißartigen
Kohlenstoff-Verbindungen, welche sämmtlichen
Lebensvorgängen zu Grunde liegen. Bei den höheren
Thieren, welche ein Nerven-System und Sinnes-Organe besitzen, ist aus
dem Psychoplasma durch Differenzirung das Neuroplasma,
die Nervensubstanz, entstanden. Unsere Auffassung ist in diesem
Sinne materialistisch. Sie ist aber zugleich empirisch und
naturalistisch. denn unsere wissenschaftliche Erfahrung hat uns
noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen
Grundlage entbehren, und keine "geistige Welt", welche außer der
Natur und über der Natur stünde.
Gleich allen anderen Natur-Erscheinungen sind auch diejenigen des
Seelenlebens dem obersten, Alles beherrschenden
Substanzgesetze unterworfen; es giebt auch in diesem Gebiete
keine einzige Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen
Grundgesetze (vgl. Kapitel 12). Die Vorgänge des niederen
Seelenlebens bei den einzelligen Protisten und bei den Pflanzen - aber
ebenso auch bei den niederen Thieren - , ihre Reizbarkeit, ihre
Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbsterhaltung,
sind unmittelbar bedingt durch physiologische Vorgänge in dem
Plasma ihrer Zellen, durch physikalische und chemische
Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils auf
Anpassung zurückzuführen sind. Aber ganz dasselbe
müssen wir auch für die höheren
Seelenthätigkeiten der höheren Thiere und des Menschen
behaupten, für die Bildung der Vorstellungen und Begriffe,
für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des
Bewußtseins; denn diese letzteren haben sich phylogenetisch aus
jenen ersteren entwickelt, und nur der höhere Grad der
Integration oder Centralisation, der Association oder Vereinigung der
früher getrennten Funktionen, erhebt sie zu dieser erstaunlichen
Höhe.
Begriffe der Psychologie. In jeder Wissenschaft gilt mit Recht
als erste Aufgabe die klare Begriffs-Bestimmung des
Gegenstandes, den sie zu erforschen hat. In keiner Wissenschaft aber ist
die Lösung dieser ersten Aufgabe so schwierig als in der
Seelenlehre, und diese Thatsache ist um so merkwürdiger, als die
Logik, die Lehre von der Begriff-Bildung, selbst nur ein Theil der
Psychologie ist. Wenn wir Alles vergleichen, was über die
Grundbegriffe der Seelenkunde von den angesehendsten Philosophen
und Naturforschern aller Zeiten gesagt worden ist, so ersticken wir in
einem Chaos der widersprechendsten Ansichten. Was ist eigentlich die
"Seele"? Wie verhält sie sich zum "Geist"? Welche
Bedeutung hat eigentlich das "Bewußtsein"? Wie
unterscheiden sich "Empfindung" und "Gefühl"? Was
ist der "Instinkt"? Wie verhält sich der "freie Wille"?
Was ist "Vorstellung"? Welcher Unterschied besteht zwischen
"Verstand und Vernunft? und was ist eigentlich
"Gemüth"? Welche Beziehung besteht zwischen allen diesen
"Seelen-Erscheinungen und dem Körper"? Die Antworten
auf diese und viele andere, sich daran anschließenden Fragen
lauten so verschieden als möglich; nicht allein gehen die Ansichten
der angesehensten Autoritäten darüber weit aus einander,
sondern auch eine und dieselbe wissenschaftliche Autorität
hat oft im Laufe ihrer eigenen psychologischen Entwickelung ihre
Ansichten völlig verändert. Sicher hat diese
"psychologische Metamorphose" vieler Denker nicht wenig zu der
kolossalen Konfusion der Begriffe beigetragen, welche in der
Seelenlehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß
herrscht.
Psychologische Metamorphosen. Das interessanteste Beispiel
solchen totalen Wechsels der objektiven und subjektiven Anschauungen
liefert wohl der einflußreichste Führer der deutschen
Philosophie, Immanuel Kant. Der jugendliche, wirklich
kritische Kant war zu der Ueberzeugung gelangt, daß die
drei Großmächte des Mysticismus - "Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit" - im Lichte der "reinen Vernunft" unhaltbar
erscheinen; der gealterte, dogmatische Kant dagegen fand,
daß diese frei Haupt-Gespenster "Postulate der praktischen
Vernunft" und als solche unentbehrlich sind. Je mehr neuerdings die
angesehende Schule der Neokantianer den "Rückgang auf
Kant" als einzige Rettung aus dem entsetzlichen Wirrwarr der
modernen Metaphysik predigt, desto klarer offenbart sich der
unleugbare und unheilbare Widerspruch zwischen den
Grundanschauungen des jungen und des alten Kant; wir kommen
später noch auf diesen Dualismus zurück.
Ein interessantes Beispiel ähnlicher tiefgehender Wandlungen
bieten zwei der berühmtesten Naturforscher, R. Virchow
und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphose ihrer
psychologischen Grundanschauungen darf um so weniger
übersehen werden, als beide Berliner Biologen seit mehr als 40
Jahren an der größten Universität Deutschlands eine
höchst bedeutende Relle gespielt und sowohl direkt wie indirekt
einen tiefgreifenden Einfluß auf das moderne Geistesleben
geübt haben. Rudolf Virchow, der verdienstvolle
Begründer der Cellular-Pathologie, war in der besten Zeit seiner
wissenschaftlichen Thätigkeit, um die Mitte des 19. Jahrhunderts
(und besonders während seines Würzburger Aufenthalts,
von 1849 - 1856) reiner Monist; ergalt damals als einer der
hervorragendsten Vertreter jenes neu erwachenden
"Materialismus", der im Jahre 1855 besonders durch zwei
berühmte, fast gleichzeitig erschienene Werke eingeführt
wrude: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und Carl
Vogt: Köhlerglaube und Wissenschaft. Seine allgemeinen
biologischen Anschauungen von den Lebensvorgängen im
Menschen - sämmtlich als mechanische Natur-Erscheinungen
aufgefaßt! - legte damals Virchow in einer Reihe
ausgezeichneter Artikel in den ersten Bänden des von ihm
herausgegebenen Archivs für pathologische Anatomie nieder.
Wohl die bedeutendste unter diesen Abhandlungen und diejeningen, in
welcher er seine damalige monistische Weltanschauung am
klarsten zusammenfaßte, ist diejenige über "Die
Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin" (1849). Es
geschah gewiß mit Bedacht und mit der Ueberzeugung ihres
philosophischen Werthes, daß Virchow 1856 dieses
"medicinische Glaubens-Bekenntniß" an die Spitze seiner
"Gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin" stellte. Er
vertritt darin ebenso klar als bestimmt die fundamentalen Principien
unseres heutigen Monismus, wie ich sie hier mit Bezug auf die
Lösung der "Welträthsel" darstelle; er verteidigt die alleinige
Berechtigung der Erfahrungs-Wissenschaft, deren einzige
zuverlässige Quellen Sinnesthätigkeit und Gehirn-Funktion
sind; er bekämpft ebenso entschieden den anthropologischen
Dualismus, jede sognannte Offenbarung und jede "Transcendenz" mit
ihren zwei Wegen: "Glauben und Anthropomorphismus". Vor Allem
betont er den monistischen Charakter der Anthropologie, den
untrennbaren Zusammenhang von Geist und Körper, vor Kraft und
Materie; am Schlusse seines Vorworts spricht er (S. 4) den Satz aus: "Ich
habe die Ueberzeugung, daß ich mich niemals in der Lage befinden
werde, den Satz von der Einheit des menschlichen Wesens und
seine Konsequenzen zu verleugnen." Leider war die "Ueberzeugung" ein
schwerer Irrthum; denn 28 Jahre später vertrat Virchow
ganz entgegengesetzte principielle Anschauungen; es geschah dies in
jener vielbesprochenen Rede über "Die Freiheit der Wissenschaft
im modernen Staate", die er 1877 auf der Naturforscher-Versammlung
in München hielt, und deren Angriffe ich in meiner Schrift "Freie
Wissenschaft und freie Lehre" (1878) zurückgewiesen habe.
Aehnliche Widersprüche in Bezug auf die wichtigsten
philosophischen Grundsätze wie Virchow hat auch Emil
Du Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der
dualistischen Schulen und vor Allem der Ecclesia militans
errungen. Je mehr dieser berühmte Rhetor der Berliner Akademie
im Allgemeinen die Grundsätze unseres Monismus vertrat, je
mehr er selbst zur Widerlegung des Vitalismus und der transcendenten
Lebens-Auffassung beigetragen hatte, desto lauter war das Triumph-Geschrei der
Gegner, als er 1872 in seiner wirkungsvollen
Ignorabimus-Rede das "Bewußtsein" als ein
unlösbares Welträthsel hingestellt und als eine
übernatürliche Erscheinung den anderen Gehirn-Funktionen
gegenüber gestellt hatte. Ich komme später (im 10. Kapitel)
darauf zurück.
Objektive und subjektive Psychologie. Die ganz
eigenthümliche Natur vieler Seelenerscheinungen, und vor Allem
des Bewußtseins bedingt gewisse Abänderungen und
Modifikationen unserer naturwissenschaftlichen Untersuchungs-Methoden. Besonders
wichtig ist hier der Umstand, daß zu der
gewöhnlichen, objektiven, äußeren
Beobachtung noch die introspektive Methode treten muß,
die subjektive, innere Beobachtung, welche die Spiegelung
unseres "Ich" im Bewußtsein bedingt. Von dieser "unmittelbaren
Gewißheit des Ich" gingen die meisten Psychologen aus;
"Cogito, ergo sum!, "Ich denke, also bin Ich." Wir
werden daher zunächst auf diesen Erkenntniß-Weg und dann
erst auf die anderen ihn ergänzenden Methoden einen Blick
werfen.
Introspektive Psychologie (Selbstbeobachtung der Seele). Der
weitaus größte Theil aller derjenigen Kenntnisse, welche seit
Jahrtausenden in unzähligen Schriften über das menschliche
Seelenleben niedergelegt sind, beruht auf introspektiver
Seelenforschung, d. h. auf Selbstbeobachtung, und auf
Schlüssen, welche wir aus der Associon und Kritik dieser
subjektiven, "inneren Erfahrungen" ziehen. Für einen wichtigen
Theil der Seelenlehre ist dieser introspektive Weg überhaupt der
einzig mögliche, vor Allem für die Erforschung des
Bewußtseins; diese Gehirn-Funktion nimmt daher eine ganz
eigenthümliche Stellung ein und ist mehr als jede andere die
Quelle unzähliger philosophischer Irrthümer geworden
(vergl. Kap. 10). Es ist aber ganz ungenügend und führt zu
ganz unvollkommenen und falschen Vorstellungen, wenn man diese
Selbstbeobachtungen unseres Geistes als die wichtigste oder
überhaupt als die einzige Quelle seiner Erkenntniß
betrachtet, wie es von zahlreichen und angesehenen Philosophen
geschehen ist. Denn ein großer Theil der wichtigsten Erscheinungen
im Seelenleben, vor Allem die Sinnes-Funktionen (Sehen,
Hören, Riechen u. s. w.) ferner die Sprache, kann nur auf
demselben Wege erforscht werden wie jede andere
Lebensthätigkeit des Organismus, nämlich erstens durch
gründliche anatomische Untersuchung ihrer Organe, und
zweitens durch exakte physiologische Analyse der davon
abhängigen Funktionen. Um diese "äußere
Beobachtung" zu ergänzen, bedarf es aber gründlicher
Kenntnisse in Anatomie und Histologie, Ontogenie und Physiologie des
Menschen. Von diesen unentbehrlichen Grundlagen der Anthropologie
haben nun die meisten sogenannten "Psychologen" gar keine oder
nur höchsst unvollkommene Kenntniß; sie sind daher nicht
im Stande, auch nur von ihrer eigenen Seele eine genügende
Vorstellung zu erwerben. Dazu kommt noch der schlimme Umstand,
daß die hochverehrte eigene Seele dieser Psychologen
gewöhnlich die einseitig ausgebildete (wenn auch in ihrem
spekulativen Sport sehr hoch entwickelte Psyche!) eines
Kulturmenschen höchster Rasse darstellt, also das letzte
Endglied einer langen phyletischen Entwickelungsreihe, deren
zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr
richtiges Verständniß unentbehrlich sind. So erklärt es
sich, daß der größte Theil der gewaltigen
psychologischen Literatur heute werthlose Makulatur ist. Die
introspektive Methode ist gewiß höchst werthvoll und
unentbehrlich, sie bedarf aber durchaus der Mitwirkung und
Ergänzung durch die übrigen Methoden.
Exakte Psychologie. Je reicher im Laufe unseres Jahrhunderts
sich die verschiedenen Zweige des menschlichen Erkenntniß-Baumes
entwickelt, je mehr sich die verschiedenen Methoden der
einzelnen Wissenschaften vervollkommnet haben, deste mehr ist das
Bestreben gewachsen, dieselben exact zu gestalten, d. h. die
Erscheinungen möglichst genau empirisch zu untersuchen
und die daraus abzuleitenden Gesetze thunlichst scharf, wo
möglich mathematisch zu formuliren. Letzteres ist aber nur
bei einem kleinen Theile des menschlichen Wissens erreichbar,
vorzüglich in jenen Wissenschaften, bei denen es sich in der
Hauptsache um meßbare Größen-Bestimmungen
handelt: in erster Linie der Mathematik, sodann der Astronomie, der
Mechanik, überhaupt einem großen Theile der Physik und
der Chemie. Diese Wissenschaften werden daher auch als exacte
Disciplinen im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen ist es nicht richtig
und führt nur irre, wenn man oft alle Naturwissenschaften
"exakte" betrachtet und anderen, namentlich den historischen und den
"Geisteswissenschaften" gegenüberstellt. Denn ebenso wenig als
diese letzteren kann auch der größere Theil der
Naturwissenschaft wirklich exakt behandelt werden; ganz besonders gilt
dies von der Biologie und in dieser wieder von der Psychologie. Da diese
letzere nur ein Theil der Physiologie ist, muß sie im Allgemeinen
deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie muß die
thatsächlichen Erscheinungen des Seelenlebens möglichst
genau empirisch ergründen, durch Beobachtung und durch
Experiment; und sie muß dann die Gesetze der Psyche aus diesen
durch induktive und deduktive Schüsse ableiten und
möglichst scharf formuliren. Allein eine mathematische
Formulirung derselben ist aus leicht begreiflichen Gründen nur
sehr selten möglich; sie ist mit großem Erfolge nur bei einem
Theile der Sinnes-Physiologie ausgeführt; dagegen für den
weitaus größten Theil der Gehirn-Physiologie ist sie nicht
anwendbar.
Psychophysik. Ein kleiner Theil der Psychologie, welcher der
erstrebten "exakten" Untersuchung zugänglich erscheint, ist seit
zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt studirt und zum Range einer
besonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung
Psychophysik. Die Begründer derselben, die Physiologen
Theodor Fechner und Ernst Heinrich Weber in Leipzig,
untersuchten zunächst genau die Abhängigkeit der
Empfindungen von den äußeren, auf die Sinnesorgane
wirkenden Reizen und besonders das quantitative Verhältniß
zwischen Reizstärke und Empfindungs-Intensität. Sie
fanden, daß zur Erregung einer Empfindung eine bestimmte
minimale Reizstärke erforderlich ist (die "Reizschwelle"), und
daß ein gegebener Reiz immer um einen gewissen Betrag (die
"Unterschiedsschwelle") geändert werden muß, ehe die
Empfindung sich merklich verändert. Für die wichtigsten
Sinnes-Empfindungen (Gesicht, Gehör, Druckempfindung) gilt das
Gesetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizstärke
proportional sein ist. Aus diesem empirischen "Weber'schen Gesetz"
leitete Fechner durch mathematische Operationen sein
"psychophysisches Grundgesetz" ab, wonach die Empfindungs-Intensitäten in
arithmetischer Progression wachsen sollen,
hingegen die Reizstärken in geometrischer Progression. Indessen
ist deses Fechner'sche Gesetz, ebenso wie andere psychophysische
"Gesetze" mehrfach angegriffen und als "nicht exakt" bezweifelt worden.
Jedenfalls hat die moderne "Psychophysik" die hohen Erwartungen, mit
denen sie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt
erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung ist nur sehr
beschränkt. Indessen hat sie principiell insofern hohen Werth, als
dadurch die strenge Geltung physikalischer Gesetze auf einem wenn
auch nur sehr kleinen Gebiete des sogenannten "Geisteslebens"
dargethan wurde - eine Geltung, welche von der materialistischen
Psychologie schon längst für das ganze Gebiet des
Seelenlebens principiell in Anspruch genommen war. Die "exakte
Methode" hat sich auch hier, wie auf vielen anderen Gebieten der
Physiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar erwiesen; sie ist zwar
überall im Princip zu erstreben, aber leider in den meisten
Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger sind die vergleichende
und die genetische Methode.
Vergleichende Psychologie. Die auffällige Aehnlichkeit,
welche im Seelenleben des Menschen und der höheren Thiere -
besonders der nächstverwandten Säugethiere - besteht, ist
eine altbekannte Thatsache. Die meisten Naturvölker machen noch
heute zwischen beiden psychischen Erscheinungsweisen keinen
wesentlichen Unterschied, wie schon die allgemein verbreiteten
Thierfabeln, die alten Sagen und die Vorstellungen von der
Seelenwanderung beweisen. Auch die meisten Philosophen des
klassischen Alterthums waren davon überzeugt und endeckten
zwischen der menschlichen und thierischen Psyche keine wesentlichen
qualitativen, sonder nur quantitative Unterschiede. Selbst Plato,
der zuerst den fundamentalen Unterschied von Leib und Seele
behauptete, ließ in seiner "Seelenwanderung eine und dieselbe
Seele (oder "Idee") durch verschiedene Thier- und Menschen-Leiber
hindurch wandern. Erst das Christenthum, welches den
Unsterblichkeitsglauben auf das Engste mit dem Gottesglauben
verknüpfte, führte die principielle Scheidung zwischen der
unsterblichen Menschen-Seele und der sterblichen Thier-Seele durch. In
der dualistischen Philosophie gelangte sie vor Allem durch den
Einfluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete,
daß nur der Mensch eine wahre "Seele" und somit Empfindung und
freien Willen besitze, daß hingegen die Thiere Automaten,
Maschinen ohne Willen und Empfindung seien. Seitdem wurde von den
meisten Psychologen - namentlich auch von Kant - das
Seelenleben der Thiere ganz vernachlässigt und das
psychologische Studium auf den Menschen beschränkt; die
menschliche, meistens rein introspektive Psychologie entbehrte der
befruchtenden Vergleichung und blieb daher auf demselben niederen
Standpunkt stehen, welchen die menschliche Morphologie einnahm, ehe
sie Cuvier durch die Begründung der vergleichenden
Anatomie zur Höhe einer "philosophischen Naturwissenschaft"
erhob.
Thier-Psychologie. Das wissenschaftliche Interesse für
das Seelenleben der Thiere wurde erst in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts neu belebt, im Zusammenhang mit den Fortschritten
der systematischen Zoologie und Physiologie. Besonders anregend wirkte
die Schrift von Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über
die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). Indessen eine tiefere
wissenschaftliche Erforschung wurde erst möglich durch die
fundamentale Reform der Physiologie, welche wir dem großen
Berliner Naturforscher Johannes Müller verdanken. Dieser
geistvolle Biologe, das ganze Gebiet der organischen Natur, Morphologie
und Physiologie, gleichmäßig umfassend, führte zuerst
die exakten Methoden der Beobachtung und des Versuchs im
gesammten Gebiete der Physiologie durch und verknüpfte sie
zugleich in genialer Weise mit den vergleichenden Methoden; er
wendete dieselben ebenso auf das Seelenleben im weitesten Sinne an
(auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeiten) wie auf alle übrigen
Lebens-Erscheinungen. Das sechste Buch seines "Handbuchs der
Physiologie des Menschen" (1840) handelt speciell "Vom Seelenleben"
und enthält auf 80 Seiten eine Fülle der wichtigsten
psychologischen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren ist eine große Anzahl von Schriften
über vergleichende Psychologie der Thiere erschienen,
großentheils veranlaßt durch den mächtigen
Anstoß, welchen 1859 Charles Darwin durch sein Werk
über den Ursprung der Arten gab, und durch die Einführung
der Entwickelungs-Theorie in das psychologische Gebiet. Einige
der wichtigsten dieser Schriften verdanken wir Romanes und
J. Lubbock in England, W. Wundt, L. Büchner,
G. H. Schneider, Fritz Schulze und Karl Groos in
Deutschland, Alfred Espinas und E. Jourdan in Frankreich,
Tito Vignoli u. A. in Italien.
In Deutschland git gegenwärtig als einer der bedeutendsten
Psychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er besitzt vor den
meisten anderen Philosophen den unschätzbaren Vorzug einer
gründlichen zoologischen, anatomischen und
physiologischen Bildung. Früher Assistent und
Schüler von Helmholtz, hatte sich Wundt
frühzeitig daran gewöhnt, die Grundgesetze der Physik und
Chemie im gesammten Gebiete der Physiologie geltend zu machen, also
auch im Sinne von Johannes Müller in der Psychologie, als
einem Theilgebiete der letzteren. Von diesen Gesichtspunkten geleitet,
veröffentlichte Wundt 1863 werthvolle "Vorlesungen
über die Menschen- und Thier-Seele". Er liefert darin, wie er
selbst in der Vorrede sagt, den Nachweis, daß der
Schauplatz der wichtigsten Seelenvorgänge in der
unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns "einen
Einblick in jenen Mechanismus, der im unbewußten
Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den
äußeren Eindrücken stammen". Was mir aber
besonders wichtig und werthvoll an Wundt's Werk erscheint, ist,
daß er "hier zum ersten Male das Gesetz der Erhaltung der Kraft
auf das psychische Gebiet ausdehnt und dabei eine Reihe von
Thatsachen der Elektrophysiologie zur Beweisführung benutzt" (l.
c. p. VIII).
Dreißig Jahre später veröffentlichte Wundt
(1892) eine zweite, wesentlich verkürzte und gänzlich
umgearbeitete Auflage seiner "Vorlesungen über die Menschen-
und Thier-Seele". Die wichtigsten Principien der ersten Auflage sind in
der zweiten völlig aufgegeben, und der monistische
Standpunkt der ersteren ist mit einem rein dualistischen
vertauscht. Wundt selbst sagt in der Vorrede zur zweiten
Auflage, daß er sich erst allmählich von den fundamentalen
Irrthümern der ersten befreit habe, und daß er "diese Arbeit
schon seit Jahren als eine Jugendsünde betrachten lernte";
sie "lastete auf ihm als eine Art Schuld, der er, so gut es gehen
mochte, ledig zu werden wünschte". In der That sind die
wichtigsten Grundanschauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen
von Wundt's weit verbreiteten "Vorlesungen" völlig
entgegengesetzte; in der ersten Auflage rein monistisch und
materialistisch, in der zweiten Auflage rein dualistisch und
spiritualistisch. Dort wird die Psychologie als
Naturwissenschaft behandelt, nach denselben Grundsätzen
wie die gesammte Physiologie, von der sie nur ein Theil ist; dreißig
Jahre später ist für ihn die Seelenlehre eine reine
Geisteswissenschaft geworden, deren Principien und Objekte von
denjenigen der Naturwissenschaft völlig verschieden sind. Den
schärfsten Ausdruck findet diese Bekehrung in seinem Princip des
psychophysischen Parallelismus, wonach zwar einem "jedem
psychischen Geschehen irgend welche physische Vorgänge
entsprechen", beide aber völlig unabhängig von einander
sind und nicht in natürlichem Kausal-Zusammenhang
stehen. Dieser vollkommene Dualismus von Leib und Seele,
von Natur und Geist hat begreiflicher Weise den lebhaften Beifall der
herrschenden Schul-Philosophie gefunden und wird von ihr als ein
bedeutungsvoller Fortschritt gepriesen, um so mehr, als er von einem
angesehenen Naturforscher bekannt wird, der früher die
entgegengesetzten Anschauungen unseres modernen Monismus
vertrat. Da ich selbst auf diesem letzteren "beschränkten"
Standpunkt seit mehr als vierzig Jahren stehe und mich trotz aller
bestgemeinten Anstrengungen nicht von ihm habe losmachen
können, muß ich natürlich die "Jugendsünden"
des jungen Physiologen Wundt für die richtige Natur-Erkenntniß
halten und sie gegen die entgegengesetzten
Grundanschauungen des alten Philosophen Wundt energisch
vertheidigen.
Sehr interessant ist der totale philosophische Principien-Wechsel,
der uns hier wieder bei Wundt, wie früher bei Kant,
Virchow, Du Bois-Reymond, aber auch bei Karl Ernst
Baer und bei Anderen begegnet. In ihrer Jugend umfassen diese
kühnen und talentvollen Naturforscher das ganze Gebiet ihrer
biologischen Forschung mit weitem Blick und streben eifrig nach einem
einheitlichen, natürlichen Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter
haben sie eingesehen, daß dieser nicht vollkommen erreichbar ist,
und deshalb geben sie ihn lieber ganz auf. Zur Entschuldigung dieser
psychologischen Metamorphose können sie natürlich
anführen, daß sie in der Jugend die Schwierigkeiten der
großen Aufgabe übersehen und die wahren Ziele verkannt
hätten; erst mit der reiferen Einsicht des Alters und der
Sammlung vieler Erfahrungen hätten sie sich von ihrem
Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur Quelle der
Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt behaupten,
daß die großen Männer der Wissenschaft in
jüngeren Jahren unbefangener und muthiger an ihre schwierige
Aufgabe herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft
reiner ist; die Erfahrungen späterer Jahre führen vielfach
nicht nur zur Bereicherung sondern auch zur Trübung der Einsicht,
und mit dem Greisenalter tritt allmähliche Rückbildung
ebenso im Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls ist diese
erkenntnißtheoretische Metamorphose an sich eine lehrreiche
psychologische Thatsache; denn sie beweist mit vielen anderen Formen
des "Gesinnungswechsels", daß die höchsten Seelen-Funktionen ebenso
wesentlichen individuellen Veränderungen im
Laufe des Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.
Völker-Psychologie. Für die fruchtbare Ausbildung
der vergleichenden Seelenlehre ist es höchst wichtig, die kritische
Vergleichung nicht auf Thier und Mensch im Allgemeinen zu
beschränken, sondern auch die mannigfaltigen
Abstufungen im Seelenleben derselben neben einander zu
stellen. Erst dadurch gelangen wir zur klaren Erkenntniß der
langen Stufenleiter psychischer Entwickelung, welche
ununterbrochen von den niedersten, einzelligen Lebensformen bis zu
den Säugethieren und an deren Spitze bis zum Menschen hinauf
führt. Aber innerhalb des Menschengeschlechts selbst sind jene
Abstufungen sehr beträchtlich und die Verzweigungen des
"Seelen-Stammbaums" höchst mannigfaltig. Der psychische
Unterschied zwischen dem rohesten Naturmenschen der niedersten
Stufe und dem vollkommensten Kulturmenschen der höchsten
Stufe ist kolossal, viel größer, als gemeinhin angenommen
wird. In der richtigen Erkenntniß dieser Thatsache hat besonders
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die "Anthropologie
der Naturvölker" (Waitz) einen lebhaften Aufschwung
genommen und die vergleichende Ethnographie eine hohe Bedeutung
für die Psychologie gewonnen. Leider ist nur das massenhaft
gesammelte Rohmaterial dieser Wissenschaft noch nicht genügend
kritisch durchgearbeitet. Welche unklaren und mystischen
Vorstellungen hier noch herrschen, zeigt z. B. der sogenannte
"Völkergedanke" des bekannten Reisenden Adolf
Bastian, der die größten Verdienste als Begründer
des Berliner "Museums für Völkerkunde" besitzt, aber als
fruchtbarer Schriftsteller ein wahres Monstrum von kritikloser
Kompilation und konfuser Spekulation darstellt.
Ontogenetische Psychologie. Am meisten vernachlässigt
und am wenigsten angewendet unter allen Methoden der
Seelenforschung ist bis auf den heutigen Tag die
Entwicklungsgeschichte der Seele; und doch ist gerade dieser
selten betretene Pfad derjenige, der uns am kürzesten und
sichersten durch den dunklen Urwald der psychologischen Vorurtheile,
Dogmen und Irrthümer zu der klaren Einsicht in viele der
wichtigsten "Seelenfragen" führt. Wie in jedem anderen Gebiete
der organischen Entwickelungsgeschichte, so stelle ich auch hier
zunächst die beiden Hauptzweige derselben gegenüber, die
ich zuerst 1866 unterschieden habe: die Keimesgeschichte
(Ontogenie) und die Stammesgeschichte (Phylogenie). Die
Keimesgeschichte der Seele, die individuelle und biontische
Psychogenie, untersucht die allmähliche und stufenweise
Entwickelung der Seele in der einzelnen Person und strebt nach
Erkenntniß der Gesetze, welche dieselbe ursächlich bedingen.
Für einen wichtigen Abschnitt des menschlichen Seelenlebens ist
hier schon seit Jahrtausenden sehr viel geschehen; denn die rationelle
Pädagogik mußte sich ja schon frühzeitig die
Aufgabe stellen, theoretisch die stufenweise Entwickelung und
Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen zu lernen, deren
harmonische Ausbildung und Leitung sie praktisch durchzuführen
hatte. Allein die meisten Pädagogen waren idealistische und
dualistische Philosophen und gingen daher an ihre Aufgabe von
vornherein mit den althergebrachten Vorurtheilen der spiritualistischen
Psychologie. Erst seit wenigen Decennien ist dieser dogmatischen
Richtung gegenüber auch in der Schule die naturwissenschaftliche
Methode zu größerer Geltung gelangt; man bemüht sich
jetzt mehr, auch in der Beurtheilung der Kindes-Seele die
Grundsätze der Entwickelungslehre zur Anwendung zu bringen.
Das individuelle Rohmaterial der kindlichen Seele ist ja bereits durch
Vererbung von Eltern und Voreltern qualitativ von vornherein
gegeben; die Erziehung hat die schöne Aufgabe, dasselbe durch
intellektuelle Belehrung und moralische Erziehung, also durch
Anpassung, zur reichen Blüte zu entwickeln. Für die
Kenntniß unserer frühesten psychischen Entwickelung hat
erst Wilhelm Preyer (1882) den Grund gelegt in seiner
interessanten Schrift "Die Seele des Kindes, Beobachtungen über
die geistige Entwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren".
Für die Erkenntniß der späteren Stufen und
Metamorphosen der individuellen Psyche bleibt noch sehr viel zu thun;
die richtige, kritische Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes
beginnt auch hier sich als klarer Leitstern des wissenschaftlichen
Verständnisses zu bewähren. (Vergl. Hermann Kroell,
Der Aufbau der menschlichen Seele, 1900.)
Phylogenetische Psychologie. Eine neue fruchtbare Periode
höherer Entwickelung begann für die Psychologie, wie
für alle anderen biologischen Wissenschaften, als vor vierzig
Jahren Charles Darwin die Grundsätze der
Entwickelungslehre auf sie anwendete. Das siebente Kapitel seines
epochemachenden Werkes über die Entstehung der Arten (1859)
ist dem Instinkt gewidmet; es enthält den werthvollen
Nachweis, daß die Instinkte der Thiere, gleich allen anderen
Geistesthätigkeiten, den allgemeinen Gesetzen der historischen
Entwickelung unterliegen. Die speciellen Instinkte der einzelnen Thier-Arten
werden durch Anpassung umgebildet, und diese
"erworbenen Abänderungen" werden durch Vererbung auf
die Nachkommen übertragen; bei ihrer Erhaltung und Ausbildung
spielt die natürliche Selektion durch den "Kampf um's
Dasein" ebenso eine züchtende Rolle wie bei der Transformation
jeder anderen physiologischen Thätigkeit. Später hat
Darwin in mehreren Werken diese fundamentale Ansicht weiter
ausgeführt und gezeigt, daß dieselben Gesetze "geistiger
Entwickelung" durch die ganze organische Welt hindurch walten, beim
Menschen ebenso wie bei den Thieren und bei diesen ebenso wie bei
den Pflanzen. Die Einheit der organischen Welt, die sich aus ihrem
gemeinsamen Ursprung erklärt, gilt also auch für das
gesammte Gebiet des Seelenlebens, vom einfachsten, einzelligen
Organismus bis hinauf zum Menschen.
Die weitere Ausführung von Darwin's Psychologie und ihre
besondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelenlebens
verdanken wir einem ausgezeichneten englischen Naturforscher,
George Romanes. Leider wurde er durch seinen allzu
frühen, kürzlich erfolgten Tod an der Vollendung des
großen Werkes gehindert, welches alle Teile der vergleichenden
Seelenkunde gleichmäßig im Sinne der monistischen
Entwickelungslehre ausbauen sollte. Die beiden Theile dieses Werkes,
welche erschienen sind, gehören zu den werthvollsten
Erzeugnissen der gesammten psychologischen Literatur. Denn getreu
den Principien unserer modernen monistischen Naturforschung sind
darin erstens die wichtigsten Thatsachen zusammengefaßt
und geordnet, welche seit Jahrtausenden durch Beobachtung und
Experiment auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empirisch
festgestellt wurden; zweitens sind dieselben mit objektiver Kritik
geprüft und zweckmäßig gruppirt; und drittens
ergeben sich daraus diejenigen Vernunft-Schlüsse
über die wichtigsten allgemeinen Fragen der Psychologie, welche
allein mit den Grundsätzen unserer modernen monistischen
Weltanschauung vereinbar sind. Der erste Band von Romanes'
Werk (440 Seiten, Leipzig 1885) führt den Titel: "Die geistige
Entwickelung im Thierreich" und stellt die ganze lange Stufenreihe der
psychischen Entwickelung im Thierreiche von den einfachsten
Empfindungen und Instinkten der niedersten Thiere bis zu den
vollkommensten Erscheinungen des Bewußtseins und der Vernunft
bei den hochststehenden Thieren im natürlichen Zusammenhang
dar. Es sind darin auch viele Mittheilungen aus hinterlassenen
Manuskripten "über den Instinkt" von Darwin mitgetheilt,
und zugleich ist eine "vollständige Sammlung von Allem, was
derselbe auf dem Gebiete der Psychologie geschrieben hat", gegeben.
Der zweite und der wichtigste Theil von Romanes' Werk
behandelt "die geistige Entwickelung beim Menschen und den Ursprung
der menschlichen Befähigung" (430 Seiten, Leipzig 1893). Der
scharfsinnige Psychologe führt darin den überzeugenden
Beweis, "daß die psychologische Schranke zwischen Thier und
Mensch überwunden ist" (!); das begriffliche Denken und
Abstraktions-Vermögen des Menschen hat sich allmählich
aus den nicht begrifflichen Vorstufen des Denkens und Vorstellens bei
den nächstverwandten Säugethieren entwickelt. Die
höchsten Geistesthätigkeiten des Menschen, Vernunft,
Sprache und Bewußtsein, sind aus den niederen
Vorstufen derselben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen
und Halbaffen) hervorgegangen. Der Mensch besitzt keine einzige
"Geistesthätigkeit", welche ihm ausschließlich
eigenthümlich ist; sein ganzes Seelenleben ist von demjenigen der
nächstverwandten Säugethiere nur dem Grade, nicht
der Art nach, nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden.
Den Leser meines Buches, welcher sich für diese hochwichtigen
"Seelen-Fragen" interessirt, verweise ich auf das grundlegende Werk
von Romanes. Ich stimme fast in allen Anschauungen und
Ueberzeugungen mit ihm und mit Darwin überein; wo sich
etwa scheinbare Unterschiede zwischen diesen Autoren und zwischen
meinen früheren Ausführungen finden, da beruhen sie
entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form meinerseits oder
auf einem unbedeutenden Unterschiede in der Anwendung der
Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den charakteristischen
Merkmalen dieser "Begriff-Wissenschaft", daß über ihre
wichtigsten Grundbegriffe die angesehendsten Philosophen ganz
verschiedene Ansichten haben.
(Nachschrift. Nach dem Tode von Romanes erschien eine
angeblich von ihm verfaßte Schrift: "Gedanken über Religion";
sie widerspricht den früheren theilweise {- Psychologische
Metamorphose?? S. 41}).
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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