Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Nachwort
zur Schrift über die "Welträthsel".
_________
Die ersten Auflagen meiner Schrift über die "Welträthsel",
die im Herbste des Jahres 1899 erschienen, fanden einen sehr raschen
Absatz; innerhalb weniger Monate wurden zehntausend Exemplare
verkauft. Es war mir daher zu meinem Bedauern nicht möglich,
sofort die Verbesserungen einiger Fehler vorzunehmen, auf welche ich
erst durch mehrere inzwischen erschienene Gegenschriften aufmerksam
gemacht wurde. Erst bei dieser Gelegenheit einer späteren Auflage
fand ich hinreichend Muße, jene Irrthümer zu berichtigen.
Schon während des ersten Jahres nach dem Erscheinen meines
Buches wurden mehr als hundert verschiedene Besprechungen
desselben in zahlreichen Zeitschriften veröffentlicht, sowie ein
Dutzend größere Broschüren. Eine übersichtliche
Zusammenstellung und kritische Vergleichung gab im Herbst 1900 einer
meiner Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), in seiner
Broschüre "Der Kampf um die Welträthsel" (Bonn,
Emit Strauß. II. Aufl. 1900). Später ist die Zahl der
Gegenschriften noch bedeutend gestiegen, nachdem Uebersetzungen des
Buches in die englische, französiche, italienische und spanische
Sprache erschienen waren und auch in diesen Nachbarländern
starken Absatz gefunden hatten. Gegenwärtig mag die Anzahl der
verschiedenen Besprechungen wohl mehrere Hundert betragen.
Dieser unerwartete Erfolg eines philosophischen Buches legte dem
Verfasser gewissermaßen die Pflicht auf, wenigstens die
wichtigsten von jenen Gegenschriften zu beantworten und die zum Theil
sehr schweren Vorwürfe zu widerlegen. In der That fühlte
ich mich auch zu einer solchen umfassenden Entgegnung, zu der ich
direkt und indirekt vielfach aufgefordert wurde, meiner Neigung
zuwider fast gezwungen. Die Ausführung derselben wurde aber
durch meine zweite Reise nach Indien vereitelt, die ich im August 1900
nach Java und Sumatra antrat und über welche ich in meinen
"Malayischen Reisebriefen" Bericht erstattet habe ("Insulinde", Bonn,
Emil Strauß, 1901).
Wollte ich eine eingehende Antwort auf alle verschiedenen, gegen die
"Welträthsel" gerichteten Angriffe geben, so würde ein
neues Buch entstehen, weit umfangreicher als das erste. Eine derartige
ausführliche Gegenschrift aber erscheint mir bei der
gegenwärtigen Lage des großen Kampfes um die
Weltanschauung weder nothwendig noch zweckmäßig; es
genügt vielmehr, wenn ich in diesem kurzen "Nachwort" die
wichtigsten Einwände beleuchte, starke
Mißverständnisse aufkläre und meinen principiellen
Standpunkt nochmals klar darlege. Die äußere Veranlassung
dazu giebt mir gerade jetzt, nachdem mit der letzten (achten) Auflage
16 000 Exemplare des Buches in deutscher Sprache verbreitet sind, die
Veröffentlichung der billigen Volksausgabe. Zu einer solchen war
ich schon im Laufe des letzten Jahres von mehreren Seiten dringend
aufgefordert worden; ich konnte mich aber zur Erfüllung dieses
Wunsches - trotz mancher Bedenken - erst jetzt entschließen,
bewogen durch den starken Erfolg der englischen Uebersetzung. Von
dieser hatte die "Rationalist Press Association" in London zu Ende
vorigen Jahres eine billige Volksausgabe veranstaltet und innerhalb
dreier Monate 30 0000 Exemplare abgesetzt. Durch die deutsche
Volksausgabe wird es nunmehr auch unbemittelten Gebildeten
(namentlich Lehrern und Studirenden) möglich sein, sich mit dem
Inhalt des Buches bekannt zu machen; ich habe darin
thatsächliche Irrthümer verbessert, viele Sätze
gekürzt und überflüssiges Beiwerk (Motti, Litteratur-Angaben),
sowie sämmtliche Anmerkungen fortgelassen.
Der überraschende Erfolg der "Welträthsel" erklärt
sich wohl großentheils durch das stetig wachsende
Bedürfniß weiter Bildungskreise nach einer klaren,
einheitlichen Weltanschauung. Die Gewinnung einer solchen wird
von Tag zu Tag schwieriger durch das erstaunliche Wachstum der
empirischen Specialforschung und die damit verknüpfte vielfache
Arbeitstheilung in allen einzelnen Wissensgebieten. Je mehr sich hier
der denkende Beobachter in der unübersehbaren Masse von
besonderen Einzelheiten zu verlieren droht, desto lebhafter wird auf der
anderen Seite sein Bedürfniß nach der Gewinnung
einheitlicher Gesichtspunkte und einer allgemeinen Uebersicht
über das ganze Erkenntnißgebiet. Eine solche
Philosophie kann aber nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage
ruhen, auf kritischer Zusammenfassung aller allgemeinen Ergebnisse der
Erfahrungswissenchaften. Zu einer solchen echten "Naturphilosophie" ist
jeder denkende und wissenschaftliche gebildete Mensch berechtigt; sie
ist nicht das privilegirte Eigenthum einer bevorzugten Gelehrten-Kaste.
Die allgemeinen Betrachtungen, welche in diesem "Nachwort zu den
Welträthseln" voranschicken möchte sind ganz dieselben,
welche David Strauß vor dreißig Jahren in seiner
meisterhaften Broschüre gegeben hat: "Ein Nachwort als Vorwort
zu den neuen Auflagen meiner Schrift: Der alte und der neue
Glaube" (Bonn, Emil Strauß, 1873). Alles, was hier in
vollkommenster Form der größte Theologe des 19.
Jahrhunderts über die Entstehung und Absicht seines
berühmten Buches sagt, über die Motive und Methoden
seiner zahlreichen Gegner, zur Begründung und Vertheidigung
seines "Bekenntnisses" - alles das gilt wörtlich auch für mich
und meine "Welträthsel". Denn auch dieses Buch ist nur das offene
und ehrliche Bekenntniß eines Mannes, der ein halbes Jahrhundert
hindurch nach Erkenntniß der Wahrheit geforscht hat, und
der nun die allgemeinen Ergebnisse seiner mühsamen
Forschungen nach bestem Wissen und Gewissen seinen Mitmenschen
nutzbar machen möchte. Indem ich also bezüglich aller
allgemeinen Beziehungen auf jenes klassische "Bekenntniß" von
David Strauß und auf die Erklärungen seines
bedeutungsvollen "Nachworts" hinweise, begnüge ich mich hier
mit einer kurzen Entgegnung auf diejenigen Broschüren
über die Welträthsel, welche am dringendsten dazu
auffordern; es sind die beiden philosophischen Schriften von
Paulsen und Adickes, die beiden theologischen von
Loofs und Nippold.
Unter allen Gegenschriften, die seit drei Jahren gegen mein Buch
veröffentlicht wurden, hat mich keine in so hohem Maße
überrascht und befremdet, als diejenige von Friedrich
Paulsen, Professor an der Universität Berlin. Sie erschien im
Juli 1900 im ersten Hefte der 101. Bandes der Preußischen
Jahrbücher, unter dem Titel: Ernst Haeckel als Philosoph;
sie wurde dann später abgedruckt in einer Sammlung von
Aufsätzen, betitelt "Philosophia militans"; gegen
Naturalismus und Klerikalismus". Diese Schmähschrift verurtheilt
nicht allein mein ganzes Buch in den schärfsten Ausdrücken,
sie übergießt nicht nur alle angreifbaren Stellen desselben
mit Spott und Hohn - sondern, was schlimmer ist: Paulsen verschweigt
viele wichtige Sätze meiner Weltanschauung, in denen er mit mir
übereinstimmt, und rupft dagegen aus dem Reste alle die
Sätze heraus, die ihm zum Angriff geeignet erscheinen. Eine
verblüffende Dreistigkeit ist es, wenn Paulsen
fortwährend behauptet, daß ich die Philosophie
überhaupt verwerfe, während ich mehr Gewicht auf sie lege,
als die meisten andern Naturforscher; was ich bekämpfe ist die
herrschende falsche Metaphysik! Es genügt zur
Charakteristik von Paulsen's Pamphlet, wenn ich hier seine
Schlußsätze wörtlich anführe: "Ich habe mit
brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand
der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres
Volkes. Das ein solches Buch möglich war, das es geschrieben,
gedruckt, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei dem Volk,
das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist
schmerzlich! Indessen "Nosce te ipsum!"
Dieses maaßlose Verdammungsurtheil von Paulsen
gehört zu den härtesten und heftigsten, die mir in den
langen vierzig Jahren meiner litterarischen Kämpfe entgegen
geschleudert worden sind. Der unbefangene Leser könnte
vermuthen, daß ein scharfer persönlicher Gegensatz hinter
demselben sich verberge; indessen ist das nicht der Fall. Weder kenne
ich Professor Paulsen persönlich, noch habe ich jemals in einer
litterarischen Beziehung zu ihm gestanden - ausgenommen daß ich
auf Seite 2 der "Welträthsel" seine "Einleitung in die Philosophie"
vor vielen ähnlichen Büchern dem Leser zum Studium
empfohlen habe. Sein Buch ist vortrefflich geschrieben und giebt eine
klare Uebersicht über die wichtigsten Probleme der
Weltanschauung. Der persönliche Standpunkt des Verfassers ist
der herrschende, durch die Autorität von Kant gedeckte
Dualismus, obgleich gerade Paulsen am wenigsten berechtigt ist,
sich zum Vertheidiger von Kant aufzuwerfen; daß gerade
ihm der Verständniß für die Kantische Philosophie in
hohem Maaße abgeht, wird von den tüchtigsten
Kantforschern einstimmig behauptet (z. B. von Cohen,
Vorländer, Goldschmidt u. A.). Andererseits
bemüht Paulsen sich doch, in den meisten kosmologischen Fragen
den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft gerecht zu
werden, und stimmt darin mit den wichtigsten Hauptsätzen
meines Monismus überein. Daher haben mehrere unparteiische
Zuschauer dieses Kampfes darauf hingewiesen, daß der von
Paulsen geschaffene schroffe Gegensatz zu meinen Principien ein ganz
künstlicher ist, und daß seine scharfen Angriffe unbegreiflich
sind. (Man vergleiche hierzu die angeführte Schrift von
Heinrich Schmidt, S. 45-48.) Die einzig mögliche
Erklärung derselben liegt in dem maaßlosen (auch von
anderen Gegnern getheilten) Aerger über den litterarischen Erfolg
meiner "Welträthsel" und darüber, daß
überhaupt ein Naturforscher sich untersteht, Studien über
"Philosophie" zu veröffentlichen. Denn dieses Recht steht nach
ihrer Ansicht nur den privilegirten "Fachmännern" zu; sie halten
eben für wahre "Philosophie" nur die transcendentale, auf
"Erkenntnisse I>a priori" gegründete Metaphysik; hingegen bin
ich mit den meisten anderen Naturphilosophen der Ueberzeugung,
daß die ersten Grundlagen aller wahren Philosophie auf der
Naturerkenntniß beruhen und durch denkende Erfahrung a
posteriori entstanden sind. Auf eine Widerlegung der
gehässigen und sophistischen Angriffe von Paulsen im Einzelnen
einzugehen, würde zu Nichts führen; es ist ihm nicht um
Erkenntniß der Wahrheit zu thun, sondern um Vernichtung eines
verhaßten Gegners. Da Paulsen jedoch als unterhaltender
Feuilleton-Schreiber mit Recht sehr beliebt ist und als redegewandter
Lehrer der Metaphysik in Berlin großen Einfluß übt,
möchte ich noch besonders darauf hinweisen, daß er als
selbstständiger Philosoph keine Geltung hat und nicht einen
einzigen neuen Gedanken oder Begriff in die "Weltweisheit"
eingeführt hat; daher auch sein Ingrimm über die
zahlreichen neuen Lehrsätze und Begriffe, zu deren Aufstellung
ich im Laufe fünfzigjähriger Gedankenarbeit durch das
beständige Bestreben geführt wurde, die moderne
Entwickelungslehre zur festen Grundlage unserer gesammten
Weltanschauung zu machen.
Ein weit ehrlicherer und anständigerer Gegner als der Berliner
Sophist ist Erich Adickes, Professor der Philosophie in Kiel -
obgleich auch er mich als Philosoph für eine Null
erklärt. Seine Gegenschft (130 S. stark) ist betitelt "Kant
contra Haeckel"; Erkenntnißtheorie gegen
naturwissenschaftlichen Dogmatismus" (Berlin 1901). Schon in diesem
Titel ist richtig der unversöhnliche Gegensatz ausgesprochen, in
welchem sich unser moderner Monismus zu dem durch Kant
vertretenen Dualismus befindet. Seit dreißig Jahren predigt
die herrschende Schul-Philosophie ihr "Zurück zu Kant" als
einziges Rettungsmittel, während gleichzeitig die moderne Biologie
auf den Schultern von Darwin ihre Antwort ruft: "Zurück
zur Natur!" Dieser principielle Gegensatz zwischen der Kantischen
Metaphysik und der Darwinschen Entwickelungslehre hat sich
neuerdings immer schärfer entwickelt, je mehr die letztere ihr
erklärendes Licht über das ganze weite Gebiet des
organischen Lebens und des darin inbegriffenen menschlichen
Seelenlebens ergoß.
Kant und Darwin! Unter diesem Titel veröffentlichte der
treffliche Philosoph Fritz Schulze in Dresden einen interessanten
"Beitrag zur Geschichte der Entwickelungslehre" (Jena 1875); er hatte
darin aus den verschiedenen Schriften von Kant die
interessantesten Aussprüche zusammengestellt, auf deren Grund
man den großen Philosophen von Königsberg geradezu als
einen der ersten und bedeutendsten Vorläufer von Darwin
bezeichnen könnte. Allein ich habe schon in der ersten Auflage
meiner "Natürlichen Schöpfungsgeschichte" (1868, Vortrag
V) darauf hingewiesen, daß diese großartigen
Entwickelungsgedanken des monistischen Naturphilosophen Kant in
schroffem Gegensatze zu den mystischen Lehren stehen, welche
später der dualistische Metaphysiker Kant zur Grundlage seiner
ganzen Erkenntniß-Theorie machte, und welche heute wieder in
höchstem Ansehen stehen. Man muß eben bei jeder
Betrachtung seiner Lehren zuerst fragen: "Welcher Kant ist gemeint?
Kant Nr. I., den Begründer der monistischen Kosmogenie,
der kritische Ergründer der "reinen Vernunft"? - oder
Kant Nr. II., der Verfasser der dualistischen "Kritik der
Urtheilskraft", der dogmatische Erfinder der "praktischen
Vernunft"?" Kant I. behauptete "die Verfassung und den
mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach
Newton'schen Grundsätzen", und stellte den Satz auf, daß
"der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung aller
Erscheinungen einschließe". Kant II. dagegen vertrat "die
nothwendige Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das
teleologische, in Erklärung eines Dinges als Naturzweck": es
sei "ungereimt, zu hoffen, daß wir die organisirten Wesen und
deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Principien
der Natur erklären können". Kant I., der kritische
Naturphilosoph, wies überzeugend nach, daß die drei Central-Dogmen
der Metaphysik: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für die
"reine Vernunft" unzugänglich und unbeweisbar seien. Kant
II. dagegen, der dogmatische Glaubensheld, behauptete, daß diese
drei mystischen Phantasiegebilde unentbehrliche "Postulate der
praktischen Vernunft" seien. Dieser durchgreifende Gegensatz
zwischen zwei unversöhnlichen Principien, zwischen der
theoretischen reinen Erkenntniß und den praktischen
Glaubenssätzen, zieht sich durch die ganze lange Gedankenarbeit
Kant's von Anfang bis zum Ende durch und ist nie zum Ausgleich
gelangt. Alle neueren unbefangenen Geschichtsschreiber der
Philosophie, insbesondere Ueberweg-Heinze, A. Lange, A. Rau, Vaihinger
- ja selbst Paulsen! - haben diesen unheilvollen Zwiespalt
übereinstimmend anerkannt; er muß von vornherein unser
Mißtrauen gegen eine "Erkenntniß-Theorie" erregen, die sich
auf einer so dualistischen Grundlage aufbaut. (Vergl. H. Schmidt,
a. a. O. S. 46-48.)
Gerade diese vielberufene Erkenntniß-Theorie nun ist es,
die von den eifrigen dualistischen Gegnern der "Welträthsel"
meinem Monismus als sicherste Waffe entgegengehalten wird. Ihr
gegenüber kann ich mich nur darauf berufen, daß die ganze
neuere Naturwissenschaft seit dreihundert Jahren, seit Bacon und
Newton, die unbefangene Erfahrung, die
"voraussetzungslose" Erforschung der durch Sinnesthätigkeit
erkannten Thatsachen, als Ausgangspunkt aller sicheren
Erkenntniß festhält, also a posteriori verfährt.
Kant hingegen schließt umgekehrt a priori, aus der
inneren Selbstbetrachtung seiner Vernunft, auf die Existenz und
Beschaffenheit der Außenwelt. Die "Anfangsgründe der
Naturwissenschaft" sind für Kant "metaphysisch" und
transcendental, für unsere monistiche Weltanschauung hingegen
physikalisch und empirisch. Ebenso verhält es sich mit der
Mathematik; ihre festen und unanfechtbaren Grundsätze bestehen
nach Kant vor aller Erfahrung und unabhängig von ihr; nach
unserer Ueberzeugung sind dieselben (- wie schon Stuart Mill u.
A. gezeigt haben -) die letzten, abstrakten Ergebnisse von
Vernunftschlüssen, die durch eine lange Kette von Erfahrungen im
Laufe der Kultur-Entwickelung allmählich errungen wurden.
Ja, Entwickelung ist auch hier das Zauberwort, welches alle
"Welträthsel" (- bis auf das eine letzte, das Substanz-Problem! -)
zur Lösung führt. Wie sich der graue
Rindenmantel unseres Großhirns, des wichtigsten Seelen-Organs,
im Laufe der Tertiär-Zeit aus der einfacheren Großhirn-Rinde
unserer Primaten-Ahnen phylogenetisch entwickelt hat, so sind auch
dessen physiologische Funktionen gleichzeitig aus der niederen
Seelenthätigkeit der Letzteren bis zu den Anfängen des
Zählens und Messens bei der niederen Naturvölkern
fortgeschritten und von diesen später hoch hinauf zu der
Mathematik der Kulturvölkter.
Kant oder Darwin! So muß es auf diesem Gebiete der
Erkenntniß-Theorie jetzt heißen. Entweder giebt es,
wie Kant II. behauptet, zwei verschiedene Welten, eine empirische
(durch Erfahrung und Verstand erkennbare) und eine intelligible (nur
dem Glauben und dem Gemüth zugängliche) Welt; -
oder diese beiden Welten sind eine und dieselbe, wie uns die von
Darwin neu begründete Entwickelungs-Theorie lehrt.
Gemäß dieser letzteren gilt der Mechanismus der Natur, der
Alles nach festen Gesetzen bewirkt, auch für das gesammte, auf
Gehirnthätigkeit beruhende Seelenleben des Menschen; es giebt
keine "absolute Freiheit".
"Nach ewigen, ehernen, großen Gesetzen
Müssen wir Alle unseres Daseins Kreise vollenden."
Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, wo man sich überzeugen
wird, daß die sogenannte "kritische Philosophie" in Wahrheit rein
dogmatisch ist. Ein Dogma, d. h. ein subjektiver, von aller
Erfahrung unabhängiger Glaubenssatz, ist die "intelligible Welt"
von Kant, jenes unbekannte "Jenseits", in dem die "ewigen Ideen" von
Plato wohnen, die "unsterblichen Seelen" und der "persönliche
Gott". Ein Dogma ist das räthselhafte "Ding an sich", das
hinter allen Erscheinungen stecken soll, und von dessen Existenz auch
Kant selbst nichts weiß. Ein Dogma ist der kategorische
Imperativ, der ein unbedingtes und allgemein gültiges
Sittengesetz für alle verschiedenen Menschen-Rassen aufstellen
will. Ein Dogma ist die Behauptung, daß die
Anfangsgründe der Naturwissenschaft metaphysisich sind und
a priori entstanden seien. Und so ist dogmatisch jenes ganze
große Lehrgebäude der praktischen Vernunft, welches den
durch die reine Vernunft gefundenen Wahrheiten widerspricht, aber
trotzdem als "kritische" Weltweisheit verstanden wird.
Die Autorität von Kant hat sich seit hundert Jahren in der
deutschen Philosophie eine ähnliche Vorherrschaft errungen, wie
sie im Mittelalter Aristoteles besaß. In unzähligen
Schriften wird der Schild dieser dualistischen Autorität den
Ansprüchen der monistischen Naturwissenschaft
entgegengehalten. Aber die wichtigste und zugleich dankbarste Aufgabe
dieser "Kant-Studien" hat noch Niemand gelöst, nämlich auf
einem Druckbogen in knapper und klarer Form die fundamentalen
Widersprüche der beiden Weltanschauungen von Kant
gegenüber zustellen: links auf 8 Seiten die monistischen
Erkenntnisse der empirischen Welt durch die reine Vernunft von Kant
I.; rechts auf 8 Seiten die dualistischen Principien der intelligiblen Welt
durch die praktische Vernunft von Kant II.
Auf diesen letzteren stützt sich ganz und gar Erick Adickes,
nach dessen Ansicht "die Weltanschauung das Gebiet nicht des
Wissens, sondern des Glaubens" ist, mithin die Wahrheit
sich der Dichtung unterordnen muß. Er meint, daß ich nicht
nur als Philosoph gleich Null, sondern auch ein Mensch ohne
Gemüth sei, weil ich dem Gemüth das Recht bestreite,
gegenüber der Vernunft die Wahrheit erkennen zu wollen.
Weniger schroff und einseitig ist Julius Baumann in seiner
Broschüre: "Haeckel's Welträthsel nach ihren starken und
schwachen Seiten, mit einem Anhang über Haeckel's theologische
Kritiker" (II. Aufl.). Ich würde mich mit diesem Professor der
Philosophie in Göttingen bezüglich der meisten Punkte
verständigen können, wenn es mir möglich
wäre, ihn von der Berechtigung derjenigen monistischen
Grundanschauungen zu überzeugen, zu welchen ich durch das
Studium der allgemeinen und vergleichenden Biologie im Laufe eines
Jahrhunderts mit Nothwendigkeit naturgemäß geführt
worden bin.
Dasselbe gilt auch von demjenigen Theologen, der unter allen Gegnern
der Welträthsel nicht nur den höflichsten und
versöhnlichsten Ton anschlägt, sondern auch am
eingehendsten und ehrlichsten seine abweichenden Ansichten zu
begründen sucht. Es ist dies mein hochverehrter Kollege, der
liberale Professor der Kirchengeschichte Friedrich Nippold.
Derselbe wurde vor zwanzig Jahren Nachfolger des berühmten
Theologen Carl Hase, eines geistreichen und vielseitig gebildeten
Gelehrten, mit welchem ich länger als zwanzig Jahre hindurch
zahlreiche freundschaftliche und eingehende Gespräche über
die höchsten Fragen von "Gott und Welt", wie über die
wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft zu führen das Glück
hatte; ebenso wie mit einem anderen hochangesehenen Kollegen unserer
Universität Jena, dem verstorbenen Richard Lipsius. Wenn
ich hier dankbar der vielfachen Belehrung und Anregung gedenke,
welche ich im Laufe von 42 Jahren von diesen drei hervorragenden
Theologen empfangen habe, und wenn ich dabei mich auf die
persönliche und wissenschaftliche Werthschätzung dieser
ehrenhaften Männer der Wissenschaft berufe, so erblicke ich
darin zugleich die kürzeste und beste Abwehr der
schmählichen und verächtlichen Angriffe, welche zahlreiche
Gegner der "Welträthsel" gegen meine Person und meine
Lebensarbeit gerichtet haben, allen voran der Theologe Friedrichs
Loofs in Halle und der Philosoph Friedrich Paulsen in
Berlin.
Friedrich Nippold hielt schon am 10. Mai 1884, als er den
Lehrstuhl von Carl Hase übernahm, eine Antrittsrede, die
großes Aufsehen unser seinen theologischen Kollegen und
lebhaften Beifall unter seinen Kollegen anderer Fakultäten erregte,
unter dem Titel: "Die naturwissenschaftliche Methode in ihrer
Anwendung auf die Religionsgeschichte." In dieser geistvollen Rede
stellt der Vertreter der Kirchengeschichte an seine Fach-Kollegen die
ungewohnte Anforderung, daß sie bei ihren historischen und
litterarischen Forschungen dieselben Methoden anwenden sollen, wie
die moderne Naturwissenschaft; dabei gedenkt der Redner der
gewaltigen Erfolge von Alexander Humboldt und Hermann
Helmholtz, von Faraday und Bunsen, von
Tyndall und Charles Darwin. "Mit offenem Sinn und
warmem Herzen tritt die wissenschaftliche Theologie, tritt vor Allem die
Religionsgeschichte an die staunenswerthen Entdeckungen heran,
welche die Gegenwart der führenden Wissenschaft dankt und
welche der ganzen Zeit ihre Signatur geben." Und ebenso wie Carl
Ernst Baer unter seine klassische Entwickelungsgeschichte der
Thiere (1828) das bezeichnende Leitwort setzte: "Beobachtung und
Reflexion", so verlangt auch Nippold 1884 für die
Religionsgeschichte in erster Linie scharfe klare Beobachtung der
Thatsachen, und erst nachher den unbefangenen und
"voraussetzungslosen" Aufbau der Schlüsse, die sich aus jenen
Thatsachen ergeben. Mit vollem Rechte stellt er dieser "exakten
naturwissenschaftlichen Methode" die "herrschende
konfessionalistisch-dogmatische" gegenüber, und bezeichnet die erstere als
empirisch,
die letztere als infallibilistisch; zugleich spricht er der letzteren "in allen
ihren Formen gleich sehr den Charakter strenger Wissenschaftlichkeit
ab" (S. 12).
Diese bedeutungsvolle Antrittsrede von Nippold ist freilich nicht
nach dem Geschmacke der orthodoxen Theologen, welche leider auch
heute noch in den größten deutschen Staaten die
einflußreichste Macht bilden; sie gereicht aber um so mehr zur
hohen Ehre unserer freien Thüringer Univesität Jena und
unserem kleinen Großherzogthum Weimar, der unantastbaren
Freistätte ehrlicher Wahrheitsforschung und furchtloser Lehre.
Veröffentlicht wurde diese Rede erst später, in dem offenen
"kollegialen Sendschreiben", welches Friedrich Nippold in Folge
des Welträthsel-Streites an mich gerichtet hat (Berlin 1901). Der
beschränkte Raum dieses Nachwortes gestattet es mir leider nicht,
eine eingehende Antwort auf alle Einwürfe meines hochverehrten
Kollegen zu geben; ich muß mich mit der Versicherung
begnügen, daß ich ihm für die gewordene reiche
Belehrung auf dem mir ferner liegenden theologischen Gebiete
aufrichtig dankbar bin. Auch ist es mir in längeren, eingehenden
Gesprächen gelungen, eine erfreuliche Verständigung
über viele der wichtigsten Anschauungen herbeizuführen,
soweit eine solche zwischen einem unbefangenen, philosophisch
gebildeten Theologen und einem aufrichtigen, nach philosophischer
Erkenntniß strebenden Naturforscher überhaupt
möglich ist.
Ganz anders verhält es sich mit einem orthodoxen Theologen, mit
Friedrich Loofs, Professor der Kirchengeschichte in Halle. Sein
"Anti-Haeckel", 1900 in Halle erschienen, ist in der Hauptsache
eine auserlesene Sammlung der verschiedensten Schimpfwörter
und Beleidigungen; Heinrich Schmidt hat in seiner
Broschüre auf zwei Seiten (19, 20) eine Musterkarte derselben
gegeben. Die ehrenvollen Bezeichnungen: "Dummheit, Unwissenheit,
Ignoranz, Unkenntniß, Unsinn" u. s. w. , verstärkt durch die
angenehmen Beiwörter: "unglaublich, ungeheuerlich, unehrlich,
unredlich, anstößig, widerwärtig, verächtlich, zu
dumm" u. s. w. - werden in diesem schmutzigen Pamphlet so oft
wiederholt, daß es selbst dem frömmsten Gläubigen zu
viel werden muß. Indessen hat das Machwerk von Loofs (in
mehreren Auflagen weit verbreitet) auch seine komischen Seiten, und
ich möchte nicht den Ausdruck des Dankes für die heiteren
Stunden unterlassen, welche der fromme Hallenser Fananiker dadurch
mir und meinen Jenenser Freunden bereitet hat. Nachdem nämlich
der Herr Kirchenrath "gezeigt hat, daß der Verfasser der
Welträthsel ein normales wissenschaftliches Gewissen nicht hat,
und daß man ihm auf keinem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit
Sorgfalt und ernsten Wahrheitsinn zutrauen kann", schließt er
seine Philippica mit folgenden Sätzen: "Das sind harte Worte.
Meine ganzen Ausführungen sind ehrverletzend für
Professor Haeckel und sollen es sein. Ich habe so geschrieben, daß
jedes Gericht mich der Beleidigung des Jenenser Kollegen wird
schuldig sprechen müssen, wenn ich nicht zugleich den
Wahrheitsbeweis für meine Behauptungen erbracht habe. Nur
durch ein richterliches Urtheil nach vorausgegangenem
Sachverständigen-Gutachten würde ich mich für
widerlegt halten."
Dieser Gedanke ist wirklich kostbar! Die Entscheidung über die
Wahrheit in dem großen Kampfe der Weltanschauungen dem
juristischen Ermessen eines deutschen Richter-Kollegiums - in letzter
Instanz des Reichsgerichts! - zu überlassen! Unsere braven
Juristen sind gewiß zum größten Theile rechtliche Leute;
aber die Befähigung zur Entscheidung über philosophische
Grundfragen, zu welcher vor Allem gründliche biologische
Bildung gehört, werden die Meisten von ihnen wohl selbst
ablehnen. Vielleicht erwartet aber Herr Kollege Loofs, daß
ich ihm als Antwort auf seine ehrverletzenden Beschimpfungen einen
Kartellträger schicke und ihn zu einem Duell auf "krumme
Säbel oder Pistolen" fordere? Dann wird er umsonst warten! Nach
meiner Ueberzeugung ist jedes Duell entweder als "Gottes-Urtheil"
vernunftwidrig oder gehört als barbarische Unsitte zum "groben
Unfug" - ganz abgesehen davon, daß diese rohe Form der Rache
den milden Grundlehren der christlichen Religion direkt ins Gesicht
schlägt!
Was überhaupt das Verhalten eines vernünftigen und
ehrenhaften Mannes gegenüber öffentlichen Beleidigungen
und Beschimpfungen betrifft, so halte ich im Allgemeinen die Praxis
Friedrich's des Großen für richtig; er ließ die gegen ihn
gerichteten Pamphlete niedriger hängen, damit die Leute sie
besser lesen könnten. So habe ich seit 36 Jahren verfahren, seit
zuerst meine "Natürliche Schöpfungsgeschichte",
später (1874) meine "Anthropogenie" eine Fluth von
geharnischten Gegenschriften hervorriefen. Anfangs habe ich noch
gelegentlich (- in den Vorreden späterer Auflagen -) wenigstens
gegen die schlimmsten Angriffe protestirt und auf die Grundlosigkeit
vieler Verleumdungen und Verdrehungen hingewiesen (- besonders von
Seiten rechtgläubiger christlicher Fanatiker -). Später habe
ich auch das unterlassen, weil es mir bei meinen litterarischen
Kämpfen nicht um die Rechtfertigung meiner Person,
sondern um die Vertheidigung meiner guten Sache, der
"voraussetzungslosen" Erkenntniß der Wahrheit, zu thun ist.
Das möchte ich besonders noch geltend machen gegenüber
einem eifrigen (- mir persönlich unbekannten -) Gegner, der mich
seit Jahren mit unermüdlicher Hartnäckigkeit verfolgt, Dr.
phil. E. Dennert, Schuldirektor in Godesberg a. Rh. Nachdem
dieser fromme Mann in zahlreichen Aufsätzen seiner
Entrüstung über die Entwickelungslehre Ausdruck gegeben
und eine komiche Abhandlung "Am Sterbelager des Darwinismus"
geschrieben, hat er neuerdings mir die Ehre einer besonderen
Schmähschrift erwiesen: "Die Wahrheit über Ernst Haeckel
und seine Welträthsel, nach dem Urtheil seiner Fachgenossen"
(Halle 1901). Die Wahrheit über den Inhalt und Charakter dieses
Pamphlets ist folgende: Dennert hat mit anerkennenswerthem
Fleiße die meisten von den zahlreichen Angriffen
zusammengetragen, welche im Laufe von 36 Jahren, während
langer und heftiger litterarischer Kämpfe, gegen mich und meine
Schriften gerichtet worden sind. Diese Angriffe sind von der
allerverschiedensten Art: etwa ein Drittel bezieht sich auf
entgegengesetzte Ansichten über specielle naturwissenschaftliche
Streitfragen, die noch heute unentschieden sind; ein zweites Drittel
betrifft unmittelbar den großen Kampf der Weltanschauungen, der
vor vierzig Jahren durch Charles Darwin entfesselt wurde und
der noch lange fortdauern wird - es ist natürlich, daß hier die
unversöhnlichen Gegensätze um so heftiger auf einander
stoßen, je klarer und konsequenter sie entwickelt werden: Hier
Kant I., Spinoza und Goethe: Monismus, Vernunft
und Pantheismus: dort Kant II., Paulsen und
Dennert: Dualismus, Aberglaube und Theismus. Das letzte Mittel
von Dennert's Schmähschrift, im Geiste von Loofs
und Paulsen geschrieben, ist eine bunte Sammlung von
Verdächtigungen und Schmähungen aller Art, die theils auf
sophistischen Entstellungen und Verdrehungen meiner Lehren beruhen,
theils auf reinen Erfindungen und Verleumdungen. Der moralische
Charakter dieser verächtlichen Angriffe wird dadurch nicht
gebessert, daß der fromme Dr. Dennert sich mit
besonderem Behagen auf undankbare frühere Schüler von
mir beruft. Ich bekleide mein Lehramt an der Universität Jena
jetzt seit 84 Semestern und habe in diesem langen Zeitraum vor mehr
als sechstausend Schülern vorgetragen; darunter befinden sich
nicht wenige, welche als Lehrer und Forscher auch den
größeren deutschen Universitäten zur Zierde gereichen.
Natürlich fehlt es aber auch dazwischen auch nicht an solchen
Charakteren, die nicht aus Ueberzeugung, sondern aus egoistischen
Gründen in heimtückische Gegner sich verwandelt haben.
Viele Feinde habe ich mir dadurch zugezogen, daß ich die "faulen
Kompromisse" im Kampfe um die Wahrheit verschmähe und
rücksichtslos die Folgeschlüsse aus den Erkenntnissen ziehe,
die ich durch eifriges Studium der Natur und der Menschenwelt
während eines halben Jahrhunderts gewonnen habe. Gewiß
habe ich in der Taktik jenes Kampfes oft große Fehler begangen;
aber unbeirrt habe ich stets das eine große Ziel meiner
Lebensarbeit im Auge behalten: Reine Erkenntniß der Wahrheit auf
Grund unbefangener Naturforschung.
Mit diesen persönlichen Bemerkungen möchte ich ein
für allemal auf die unzähligen Angriffe anworten, welche
von theologischen, metaphysischen und anderen Gegnern gegen meine
Person und meinen Charakter - besonders als Verfasser der
"Welträthsel" - gerichtet worden sind. Falls ein unbekannter Leser
mehr darüber zu erfahren wünscht, so findet er dies in dem
"Lebensbild" von Wilhelm Bölsche (Leipzig 1900).
Meine Gegner thun mir übrigens viel zu viel Ehre an, wenn sie
immer den Monismus, wie ich ihn 1892 in meiner Altenburger
Rede entworfen und in den "Welträthseln" ausgeführt habe,
als Privat-Ansicht meiner Person behandeln. Derselbe ist vielmehr der
Ausdruck der klaren einheitlichen Weltanschauung der modernen
Naturwissenschaft am Schlusse des 19. Jahrhunderts. Was ich hier
als mein persönliches Bekenntniß formulirt habe, das ist in
derselben (- oder in einer sehr ähnlichen -) Form die innerste
Ueberzeugung der großen Mehrzahl der denkenden modernen
Naturforscher - wohlverstanden der denkenden! Denn es giebt
auch in der riesigen Maschinen-Werkstätte der modernen
Naturforschung eine Masse gedankenloser Tagelöhner, die zwar
ihre kleine Special-Arbeit vortrefflich ausführen, aber nach dem
großen Ganzen des Betriebes gar nicht fragen; es giebt selbst unter
den angesehenen und verdienten Naturforschern nicht wenige, denen
die Gewinnung einer bestimmten Weltanschauung ganz
gleichgültig ist, die nur neue Thatsachen, keine Begriffe finden
wollen. Wer in solcher Resignation auf eine wissenschaftliche
Begründung seiner Weltanschauung überhaupt verzichtet,
sich aber gleichzeitig einem beliebigen "Glauben" in die Arme wirft, mit
dem ist natürlich nicht weiter zu verhandeln.
Durch Tausende von Gesprächen, die ich im Laufe eines halben
Jahrhunderts mit gebildeten Männern und Frauen der
verschiedensten Berufskreise gehabt habe, bin ich zu der festen
Ueberzeugung gelangt, daß der Monismus schon jetzt viel
mehr Anhänger besitzt, als man gewöhnlich annimmt - und
Tausende von zustimmenden Briefen, die in den drei Jahren seit
Erscheinen der "Welträthsel" an mich gerichtet wurden, haben
diese Ueberzeugung bestätigt. Ganz besonders gilt das von den
Kreisen der denkenden Naturforscher und Naturfreunde; sicher die
größere Hälfte, wahrscheinlich mehr als dreiviertel
derselben steht auf dem Boden meiner "Welträthsel". Meine
Gegner bestreiten dies und weisen auf die geringe Zahl von namhaften
Naturkundigen hin, die sich meinem "Bekenntniß" öffentlich
angeschlossen haben. Die Erklärung dieser Erscheinung ist aber
sehr einfach: Erstens fühlen überhaupt viele denkende
Naturforscher gar kein Bedürftniß, ihre innerste
Ueberzeugung Anderen mitzutheilen - dagegen ist Nichts zu sagen. -
Zweitens sind zahlreiche treffliche Gelehrte (darunter mehrere meiner
nächsten Freunde) der Ansicht, daß man diese
höchsten und werthvollsten Ergebnisse der Wissenschaft für
sich behalten müsse und nicht dem "Volke" preisgeben
dürfe, weil dieses Mißbrauch damit treiben könne -
eine esoterische Auffassung, der ich nicht zustimmen kann und die
schon von Lessing schlagend widerlegt worden ist; vollends
heute, wo das Licht der Naturforschung in alle dunklen Winkel leuchtet
und vermöge ihrer praktischen Verwerthung alle Volkskreise
erhellt, halte ich es für ganz vergeblich, der Verbreitung
naturphilosophischer Erkenntniß Schranken ziehen zu wollen. -
Drittens endlich (und das ist das Wichtigste!) ist die große
Mehrzahl der überzeugten Monisten durch äußere
Gründe gezwungen, ihre wahre Weltanschauung zu verleugnen
und demgemäß zu handeln. In den beiden größten
und einflußreichsten deutschen Staaten, in Preußen und
Bayern, ist die Reaktion auf dem Gebiete des höheren
Geisteslebens beständig im Steigen begriffen; die Unterrichts-Ministerien
werden von dem orthodoxen Klerus beherrscht; Pfarrer,
welche nur wenig von den befohlenen Glaubens-Formen abweichen,
werden abgesetzt; Lehrer, welche die Entwickelungslehre in die Schule
einführen wollen, werden ihrer Stellung beraubt. - Wer will von
diesen armen ehrlichen Männern verlangen, daß sie ihre
Lebensstellung dem Bekenntniß ihrer Weltanschauung opfern?
Und was würde durch dieses Martyrium erreicht? Man kann
diesen Gewissenszwang, der vielen tausend Trägern der Bildung
und Gesittung auferlegt wird, und der in vieler Beziehung
demoralisirend wirkt, auf das Tiefste bedauern; allein das
läßt sich vorläufig nicht ändern!
Sehr zu beklagen ist es auch in dieser Beziehung, daß
kürzlich der deutsche Kaiser in seinem vielbesprochenen
Handschreiben an Admiral Hollmann (vom 15. Februar 1903) ein
Glaubensbekenntniß abgelegt hat, welches weder mit seinen
früheren wiederholten Aeußerungen, noch mit dem hohen
Standpunkte der Wissenschaft im Beginne des 20. Jahrhunderts in
Einklang zu bringen ist. Bekanntlich hatte Wilhelm II. schon seit
längerer Zeit die wichtigsten Forschungen über "Bibel und
Babel" mit besonderem Interesse verfolgt und mit Rücksicht
auf dieselben die Freiheit der Forschung und Lehre auch auf dem
Gebiete der Religionsgeschichte gebührend betont. Noch vor
Kurzem hatte er in der bekannten Rede in Görlitz liberale
Ansichten darüber geäußert, welche ein volles
Verständniß für die hohe Bedeutung der freien
Entwickelung in jedem Zweige der Wissenschaft bekundeten. In
vollem Gegensatze zu dieser oft ausgesprochenen
zeitgemäßen Auffassung legt der Kaiser jetzt ein
Glaubensbekenntniß ab, welches die vor tausend Jahren
herrschenden, jetzt aber längst überwundenen
Anschauungen, besonders in Betreff der "Offenbarung" widerspiegelt.
Meine monistische Weltanschauung ist aus einem Gusse und verbindet
einheitlich und widerspruchslos die verschiedenen Hauptobjekte, die ich
in den vier Theilen meiner "Welträthsel" als "Mensch, Seele, Welt
und Gott" gegenüber gestellt habe. Indessen gebe ich gern zu, was
viele Gegner hervorheben, und was ich selbst schon auf S. 5 meines
Vorworts betont habe, daß in diesen vier Theilen "Studien
von sehr ungleichem Werthe zu einem Ganzen zusammengefügt
sind". Mit Bezug hierauf möchte ich noch folgende
Erläuterungen über die verschiedene Begründung und
Ausführung der vier Theile ganz besonders hervorheben.
Der erste, anthropologische Theil bildet die feste Grundlage und
den gemeinsamen Ausgangpunkt für sämmtliche Gebiete
meiner monistischen Philosophie; hier bin ich im eigentlichen Sinne
Fachmann und berufe mich darauf, daß ich schon 1866 (im
siebenten Buch der "Generellen Morphologie") "Die Anthropologie als
Theil der Zoologie" begründet habe. Daß der Mensch, als
Organismus betrachtet, ein Säugthier ist, und daß er
alle Merkmale besitzt, welche diese Thierklasse so auffällig von
allen übrigen Klassen scheiden, das hat Linné schon
1735 in seinem grundlegenden System der Natur festgestellt, und das
hat seither noch kein Naturforscher bestritten. Dieser Satz gilt ebenso
für Goethe und Darwin, für Kant und Moses, wie für
den Akka und Patagonier, für den Wedda und Australneger.
Dieser Fundamental-Satz hat aber seine volle Bedeutung
für die Philosophie erst innerhalb des letzten halben Jahrhunderts
gewonnen, seitdem die vergleichende Anatomie und Physiologie die
volle Uebereinstimmung unserer Organisation mit den Primaten, die
vergleichende Ontogenie und Phylogenie den gemeinsamen Ursprung
mit diesen höchstentwickelten Säugethieren nachgewiesen
hat. Ich muß ganz besonders betonen, daß diese feste
zoologische Basis der "Welträthsel" von keinen einzigen
meiner Gegner mit Erfolg angegriffen worden ist, und doch sollten hier
vor allem die ernsten Versuche der Widerlegung einsetzen.
Der zweite, psychologische Theil hat dagegen die heftigsten
Angriffe zahlreicher Gegner hervorgerufen. Vor Allen kann sich
Paulsen nicht genug thun in Hohn und Spott über
Lehrsätze, die er irrthümlich für meine
persönlichen Phantasie-Gebilde ausgiebt, während sie
allgemein anerkannte Thatsachen der vergleichenden Physiologie
sind. Der Berliner Metaphysiker offenbart hier eine erstaunliche
Unwissenheit in dem großen und wichtigen Gebiete der Zellenlehre,
der Protistenkunde, der Entwickelungsgeschichte der Gewebe und
Organe, der Physiologie und Pathologie des Nervensystems u. s. w.
Deutlicher als irgendwo tritt in diesen kindischen Angriffen von
Paulsen der bedauerliche Mangel an biologischen Kenntnissen
hervor, den er mit den meisten seiner Kollegn theilt; und doch
behaupten diese Herren für sich allein auf unseren
Universitäten das Monopol der wahren "Philosophie". In
der That ist diese Nichts als eine dualistische Metaphysik, eine
"Begriffs-Akrobatik", die sich um die reichen psychologischen Ergebnisse
der modernen Naturforschung nicht im Mindesten kümmert,
sondern mit gewandten Luftsprüngen und Equilibristen-Künsten auf dem
hochgespannten Drahtseit der "reinen
Spekulation" umhertanzt. Wenn Paulsen sich vielfach den
Anschein giebt, den Anforderungen der modernen Naturwissenschaft
gerecht zu werden, so ist dies eben nur leerer Schein; eine
täuschende Maske, unter welcher sich die dualistische Mystik um
so sicherer einschleicht. Wenn ich im Gegensatz zu diesem herrschenden
Dualismus die Psychologie als Theil der Physiologie betrachte, so
stehe ich dabei auf dem Schultern meines hochverehrten Lehrers
Johannes Müller, der im sechsten Buche seiner klassischen
Physiologie des Menschen diese Auffassung ebenso klar als
naturgemäß vertritt. Wenn dagegen einzelne neuere
Physiologien (- auf Grund einer falschen dualistischen Erkenntniß-Theorie!
-) die Psychologie wieder von der Physiologie abtrennen
wollen, so ist das ein bedauerlicher Rückschritt; folgerichtig
müßten sie dann auch die Psychiatrie von der Medicin
abtrennen und die Behandlung der Geistenkranken nicht den
naturkundigen Aerzten übertraten, sondern den unwissenden
Schäfern und "Naturheilkünstlern", oder noch besser den
"Gesundbetern", die in der "Metropole der Intelligenz" noch heute ihr
Wesen treiben.
Der dritte, kosmologische Theil der "Welträthsel" ist viel
anfechtbarer als die beiden ersten. Hier handelt es sich um die
höchsten, allgemeinsten und schwierigsten Fragen der
Naturphilosophie. Im Vordergrunde meiner Betrachtung steht hier die
feste und unerschütterliche Ueberzeugung von der Einheit der
Natur, von der allgemeinen Gültigkeit des Substanz-Gesetzes in
allen Gebieten der organischen und anorganischen Natur
- ebenso in der Psychologie wie in der Astronomie, in der Biogenie wie
in der Geologie. Besonders betonen muß ich hierbei meinen
Gegensatz zu Kant II., und zu dem modernen, wiederaufgelebten
Vitalismus. Zu welchen starken Absurditäten und unbegreiflichen
Widersprüchen dieser letztere führt kann man aus den
bekannten Schriften des Kieler Botanikers Reinke sehen: "Die
Welt als That" (1899) und "Einleitung in die theoretische Biologie"
(1901). Duch seine Hypothese der "Dominanten" (- ein neues Wort
für das alte Dogma der besonderen "Lebenskraft" -) schleicht sich
wieder die Mystik in die Weltanschauung ein, der dualistische
Aberglaube an Schöpfungen und andere Wunder. Wenn im
Gegensatze hierzu mein Monismus als "Materialismus" verdächtigt
wird, so ist das nur in einem gewissen Sinne richtig, nur insofern, als in
meinem allgemeinen Substanz-Begriffe stets Stoff und Kraft, Materie
und Energie untrennbar verbunden sind. Ich kenne keine "todte und
rohe Materie", keine Substanz ohne Empfindung. Die einfachste
chemische Erscheinung (z. B. die Wahlverwandtschaft) und das
einfachste physikalische Phänomen (z. b. Massenanziehung) sind
nicht begreiflich ohne die Annahme, daß das Vermögen der
Empfindung und Bewegung ebenso ein untrennbares Attribut der
Substanz ist, wie die ausgedehnte und raumerfüllende Materie
(Masse und Aether). Wenn man aber im Sinne aufgeklärter
Theologie "Gott" als die Summe aller Kräfte und Wirkungen
betrachtet, so kann man auch behaupten, daß mein Monismus mit
dem reinsten Monotheismus zusammenfällt.
Der vierte, theologische Theil meines Buches ist der weitaus
schwächste und angreifbarste, und ich habe ihn nur den drei
übrigen angeschlossen, weil ich die Bedeutung des theoretischen
Monismus auch für die wichtigsten Fragen der praktischen
Philosophie andeuten wollte. Wenn meine einheitliche und
naturgemäße Weltanschauung richtig ist, so muß sie
auch zu einer zeitgemäßen Reform der Religion und
Sittenlehre, mindestens zu einer natürlichen Begründung
derselben hinführen. Aber auf diesen wie auf allen anderen
Gebieten der angewandten Philosophie und des praktischen Lebens
gehen naturgemäß die Ansichten auch der gebildeten
Menschen weit auseinander, und die persönlichen Lebens-Erfahrungen
führen viele, sonst übereinstimmende Denker
zu den verschiedensten Schlüssen.
Was zunächst die Religion betrifft, so ist es eine
offenkundige Unwahrheit, wenn viele meiner Gegner mich ohne
Weiteres als Feind derselben hinstellen. Es war mein vollkommener
Ernst, wenn ich 1892 in meiner Altenburger Rede den "Monismus als
Band zwischen Religion und Wissenschaft" zu begründen
versuchte; und ebenso war es meine volle Ueberzeugung, wenn ich im
18. Kapitel der "Welträthsel" "unsere monistische Religion", und im
19. "unsere monistische Sittenlehre" auf dem Grunde unserer modernen
Entwickelungslehre festzustellen versuchte. Der Unterschied dieser
monistischen Religion und Ethik von allen anderen Formen derselben
besteht nur darin, daß wir als festes Fundament derselben
ausschließlich die reine Vernunft in Anspruch nehmen, die
Weltanschauung auf Grund der Wissenschaft, der Erfahrung und des
vernünftigen Glaubens (der wissenschaftlichen Hypothese). Im
Gegensatze dazu stehen alle Religions-Formen, welche sich auf
sogenannte "Offenbarungen" stützen, d. h. auf
übernatürliche Erscheinungen, welche der
wissenschaftlichen Erfahrung und der reinen Vernunft widersprechen,
mithin dem weiten Phantasie-Gebiete der Dichtung
angehören, oder dem Bereiche des unvernünftigen Glaubens,
d. h. des "Aberglaubens".
Das Christenthum in dieser Beziehung zu betrachten - wenn auch
nur vorübergehend - war unvermeidlich, wenn ich meinem Buche
einen gerundeten Abschluß geben wollte; und so war ich denn
gezwungen, im 17. Kapitel der "Welträthsel" eine allgemeine
Übersicht über "den wachsenden Gegensatz zwischen
moderner Naturerkenntniß und christlicher Weltanschauung" zu
geben; ich mußte den neuen Glauben der Vernunft und den alten
Glauben der Offenbarung gegenüber stellen. Wenn darauf hin
viele meiner Gegener mich schlechthin als "Feind des Christenthums"
denunziren, so entspricht das nicht der Wahrheit. Denn ich habe stets
den werthvollen Kern seiner reinen Sittenlehren anerkannt, vor Allem
das ethische Grundgesetz oder die "goldene Regel", das auch den Kern
unserer monistischen Ethik bildet. Zwar war dasselbe nicht neu (wie ich
im 19. Kapitel gezeigt habe); aber es bleibt das hohe Verdienst des
Christenthums, das Gebot der Menschenliebe und Selbstverleugnung
mehr als alle anderen Religionen betont und zu einem der wichtigsten
Kultur-Faktoren erhoben zu haben. Im Laufe von fast zwei
Jahrtausenden hat sich der ethische Werth des echten Christenthums -
trotz aller Verunstaltungen durch seine "Kirche" und deren Diener - so
vielseitig fruchtbar bewährt und ist so eng mit den
verschiedensten Einrichtungen des höheren Kulturlebens
verwachsen, daß es in der Hauptsache deren Grundlage auch in der
Zukunft bilden wird.
Anders ist der Werth des dogmatischen Christenthums, welchem
als Hauptpflicht der blinde Glaube an einen bunten orientalischen
Sagenkreis gilt, an Wunder und Zaubermärchen und an
Legenden von übernatürlichen Erscheinungen, welche im
Lichte der reinen Vernunft als unmöglich erscheinen. Dieses
dogmatische Lehrgebäude ist im Laufe des neunzehnten
Jahrhunderts haltlos zusammengebrochen. Die scharfsinnige Kritik der
Kirchengeschichte hat gelehrt, daß die Lehren des Alten und Neuen
Testaments auf Traditionen von sehr verschiedenem Alter und Werthe
beruhen. Die Archäologie des Orients hat nachgewiesen, daß
ein großer Theil der Bibel von Babel stammt und daß der
Monotheismus der Hebräer schon lange vor Moses in Babylon
Wurzel hatte. Die kritischen Forschungen nach dem "Leben Jesu" haben
uns überzeugt, daß diese herrliche Ideal-Figur des
christlichen Trinitäts-Glaubens nicht der "Sohn Gottes", sondern
ein edler Mensch von höchster sittlicher Vollkommenheit war (-
vorausgesetzt die historische Existenz seiner Person, die doch auch von
kritischen Theologen bestritten wird! -). Die fortgeschrittene Kosmologie
und Astronomie hat das geocentrische Himmelsbild des Alterthums
ebenso zerstört, wie die moderne Biologie des anthropocentrische
Menschenbild des Christenthums. Endlich hat uns die
Entwickelungslehre bewiesen, daß das Menschengeschlecht weiter
nichts ist, als ein spät aus Primaten-Ahnen entstandener Zweig
des Säugethierstammes, und daß die Seele der einzelnen
Person ebenso wenig unsterblich sein kann, wie die der anderen
Wirbelthiere.
Dieser fundamentale Gegensatz der modernen Wissenschaft gegen den
christlichen Wunderglauben ist nicht nur durch die unbefangenen
Forschungen der verschiedensten historischen und philosophischen
Autoritäten zur Gewißheit geworden, sondern auch durch die
kritischen Untersuchungen des bedeutendsten christlichen Theologen
selbst; ich erinnere nur an die bahnbrechenden Deutschen David
Strauß und Ludwig Feuerbach, an den Franzosen
Ernst Renan und den Engländer Stewart Ross. Der
Letztere hatte 1896 unter dem Pseudonym Saladin eine
besonders scharfe "kritische Untersuchung des jüdisch-christlichen
Religions-Gebäudes auf Grund der Bibelforschung"
gegeben. Daß ich mich in meinem 17., besonders hart angegriffenen
Kapitel mehrfach auf diese Autorität bezogen habe, ist mir von
meinen theologischen Gegnern zum allerschwersten Vorwurf gemacht
worden. Wie weit dieser fachlich berechtigt ist, vermag ich nicht zu
entscheiden, da die spezielle Theologie mir fern liegt. Ich kann nur
entgegnen, daß erstens Saladin unzweifelhaft ein sehr
vielseitig gebildeter Theologe ist, und daß andererseits seine
unumwundene Kritik der Bibel, besonders der klare Nachweis
unzähliger Irrthümer und Widersprüche in diesem
"Wort Gottes", dem unbefangenen gesunden Menschenverstand ohne
Weiteres einleuchtet. In vielem Einzelnen hat gewiß Saladin
(- zu dem ich keinerlei persönliche Beziehungen habe -) ebenso
geirrt, wie alle anderne Bibel-Ausleger. Auch muß ich vielfach den
gehässigen Ton seiner scharfen Angriffe auf "Jehova's Gesammelte
Werke" mißbilligen. Wenn aber jetzt evangelische und katholische
Theologen diesen englischen Kollegen in der heftigsten Weise angreifen
und mit den derbsten Schimpfwörtern beehren, so dürften
sie daran zu erinnern sein, daß sie unter sich vielfach gegenseitig
in gleicher Weise verfahren. Von demselben Ton und Werth sind die
Bannflüche, welche der römische Papst gegen alle
Andersgläubigen schleudert, und die Verdammungs-Urtheile, mit
denen die orthodoxen Häupter der evangelischen Synoden die
liberalen Theologen des Protestanten-Vereins belegen.
Unzweifelhaft besitzen viele Sagen und Legenden der "Biblischen
Geschichte" (- nicht alle! -) einen hohen ethischen und namentlich
pädagogischen Werth, ebenso wie viele Mythen und
Erzählungen anderer Religionen, und wie diejenigen des
klassischen Alterthums. Auch sind die Phantasie-Gebilde derselben von
höchster Bedeutung für alle Zweige der Kunst, der
Dichtkunst und der Tonkunst ebenso wie der bildenden Kunst. Wir
verdanken ihnen eine Fülle der herrlichsten Schöpfungen
des Menschengeistes; und für unser Gemüth ist diese
Ideal-Welt eine unerschöpfliche Quelle der Erbauung und
des Trostes inmitten unseres unvollkommenen realen Lebens. Aber
dieselben Ideal-Gebilde bergen in sich die höchsten Gefahren,
wenn sie als reale Wahrheiten gepredigt werden, von deren
Anerkennung Seligkeit oder Verdammnis abhängt; und wenn sie
zur Grundlage oder gar zur Voraussetzung der Wissenschaft
gemacht werden. Dann gleitet die letztere unaufhaltsam auf der schiefen
Ebene der Mystik in die Arme des Aberglaubens; sie wird zur
Todfeindin der reinen Vernunft.
Vollends verderblich werden diese Ideal-Gebilde der Dichtung,
wenn sie als übernatürliche "Offenbarungen" gedeutet und
von der praktischen Vernunft zu politischen und weltlichen Zwecken
gemißbraucht werden. Dann entwickelt sich jenes verderbliche
Uebergewicht der geistlichen über die weltliche Macht, jene
unzähmbare Herrschsucht der Kirche, welche den Staat lediglich
zu ihren egoistischen Zwecken ausbeutet. Je höher und
anspruchsvoller sich die einheitliche Organisation der Kirche erhebt,
desto gefährlicher wird sie für den von ihr bedrohten
Kulturstaat. Das lehrt vor Allem die Geschichte des Papismus oder
Ultramontanismus, der großartigsten und erfolgreichsten
Hierarchie in der gesammten Kulturgeschichte.
Der Hinweis auf diese größte Gefahr der modernen Kultur
erscheint gerade jetzt geboten, wo im deutschen Reichstage des
römische Centrum den Ausschlag giebt, und wo diese politische
Partei den Deckmantel der Religion benutzt, um jede freie Entwickelung
der modernen Kultur zu hemmen und den denkenden Geist in Fesseln zu
schlagen. Täglich wird dieser Kulturkampf
gefahrdrohender. Die leitenden Staatsmänner der beiden
größten deutschen Staaten, ebenso des überwiegend
protestantischen Preußens, wie des katholischen Bayerns, weichen
in unbegreiflicher Verblendung und Feigheit vor den maaßlos
frechen Angriffen der ultramontanen Kirche zurück, und der
jammervolle Reichstag fördert diese Niederlagen. Während
in dem republikanischen Frankreich die einsichtige und energische
Regierung den römischen Klerus zum Gehorsam gegen die
Staatsgesetze zwingt und den vatikanischen Todfeind der modernen
Kultur mit fester Hand niederhält, geschieht in dem
monarchischen Deutschland das Gegentheil. Der deutsche Reichstag, der
sich mit vielen Debatten (z. B. über die "Lex Heinze") vor der
ganzen gebildeten Welt lächerlich gemacht hat, fordert beharrlich
vom Bundesrat die Zulassung der Jesuiten, die selbst in vielen
katholischen Staaten wegen ihres gemeingefährlichen Treibens
immer wieder ausgewiesen werden. Dagegen werden die Altkatholiken,
welche die ursprüngliche katholische Religion in ihrer Reinheit
wieder herstellen wollen, und deren Förderung im eigensten
Interesse des Staates läge, von diesem im Stich gelassen. Die
Reichsregierung läßt sich von den Schmeichelworten des
römischen Papstes und seiner Bischöfe umgarnen und macht
ihren gefährlichsten Feinden die größten Koncessionen.
Dieser bedauerlichen Sachlage gegenüber muß der energische
Kampf gegen den Ultramontanismus allen Vaterlands-Freunden
zur sittlichen Pflicht gemacht werden. Denn dieser mächtige Feind
der höheren Geisteskultur ist viel gefährlicher als die
Social-Demokratie. Das hat einleuchtend Graf von Hoensbroech gezeigt,
der in seinem großen Werk "Das Papstthum in seiner social-kulturellen
Wirksamkeit" (Leipzig 1901) auf Grund der sichersten
historischen Quellen den ganzen ungeheueren Trug der römischen
Hierarchie entlarvt hat. Wohin dieselbe unsere Sittlichkeit führt,
zeigt die bekannte Liguori-Moral (vergl. Graßmann,
sowie die Wiesbadener Vorträge von Friedrich Nippold:
"Prinz Max von Sachsen und Prälat Keller als Vertheidiger der
Liguorischen Moral").
Die mächtigste Waffe in diesem neuen Kulturkampfe bleibt die
Aufklärung und Bildung des Volkes; kein Weg führt sicherer
zu derselben, als derjenige der unbefangenen Natur-Erkenntniß,
und vor Allem ihrer jüngsten herrlichen Frucht, der
Entwickelungslehre. Wenn in diesem heißen Kampfe der
laute Ruf erschallt: "Völker Europas, wahrt Eure heiligsten
Güter", - so können wir von unserem monistischen
Standpunkt aus darunter nur die Wahrung der Vernunft
gegenüber dem Aberglauben verstehen. Unser Monismus
ist im Sinne von Goethe zugleich der reinste Monotheismus. In
diesem Sinne mag auch diese neue Ausgabe der Welträthsel - als
ein ehrliches und offenes "Glaubensbekenntniß der reinen
Vernunft" - dazu dienen, in weiten Kreisen die veredelnde Bildung des
Volkes zu heben und den Kultus unserer idealen Gottheit zu
fördern, der Dreieinigkeit des Wahren, Guten und
Schönen!
Jena, am 2. April 1903.
Ernst Haeckel.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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